Deutsche Ängste: Verspätungen
Wie spät ist das eigentlich? Auf jeden Fall zu spät für die geistige Gesundheit der Deutschen! Unsere Seele ist zerfressen von der Angst vorm Zuspätkommen.
O weh, o weh! Ich werde zu spät kommen!
– Das deutsche Kaninchen
Im Gegensatz zu den meisten Ängsten trägt der Deutsche die Angst vor dem Zuspätkommen quasi auf der Stirn. Kein Termin, dessen erschreckenster Aspekt nicht die Möglichkeit wäre zu spät zu kommen. Deutsche fahren lieber um vier Uhr nachts zum Flughafen als, dass sie das Risiko eingehen, den Check-In für den Flug um halb sieben zu verpassen. Bis sechs ist aber noch keinerlei Personal am Flughafen das irgendwen einchecken könnte. Lieber eine Stunde vor dem Gebäude des neuen potentiellen Arbeitgebers im Auto warten, als dass man den Eindruck erwecken könnte man sei erst vor fünf Minuten angekommen und übereilt zum Empfang gekommen. Über nichts wird sich so erschüttert beklagt, wie über Verspätungen und nichts scheint den Tag des Deutschen so durcheinanderzubringen wie eine auch nur noch so minimale Verzögerung.
Nur dass kann erklären, weshalb wir tagtäglich die Deutsche Bahn für ihr Zuspätkommen strafen . Kein Verständnis wird aufgebracht für eine komplexe Infrastruktur, die von der Vollautomatisierung bis zur Handkurbel am Gleis alles integriert. Kein Verständnis für ein Universum von Abhängigkeiten und Variablen die jeden Zugfahrplan in jedem Moment in den Abgrund stürzen könnten. Nein!
Ansage (mechanisch): Der ICE Wilhelm-Conrad Röntgen hat ca. eine Stunde Verspätung. Wir bitten um ihr Verständnis.
Deutscher (hysterisch): DAS IST JA SCHLIMMER ALS IM DRITTEN REICH! DA HÄTTE ICH GLEICH MIT DEM VIEHWAGEN FAHREN KÖNNEN! DIESER SAFTLADEN!
Kein Wunder also, dass der Deutsche sich zum Hüter der europäischen Zeit auserkoren hat und mit Hilfe von zwei Cäsium-Fontänen und zwei Cäsium-Uhren der Physikalisch-Technischen-Bundesanstalt (PTB) seit 1959 das Funkuhrensignal DCF77 aus Mainflingen bei Frankfurt am Main versendet. Es gibt nur eine Zeit: Die Gesetzliche Zeit nach §4 EinhZeitG. Alles andere ist zu spät.
Die deutsche Gesellschaft ist auch nicht in der Lage das Leid, dass ihre Obsession mit der Verspätung ihr verschafft, zu beenden. Keine Entschuldigung ist gut genug für eine fünf Minütige Verspätung. Tote Oma, Autounfall, Krebs, Zugunglück, Regenwetter auf der Autobahn oder einfach nur „Scheißegal. Sind fünf Minuten. Wen interessierts.“. Nichts davon vermag den Makel zu tilgen, den man davongetragen hat.
Und jedes Mal wenn einer aus dem Urlaub kommt wird darüber gesprochen, dass es doch so verrückt sei wie frei die Menschen in jedem anderen Land sind, weil sie sich nicht über den zwei Minuten verspäteten Bus ärgern, sondern froh sind wenn überhaupt ein Bus kommt.
Bildquellen
- Atomuhr-CS2: CC-BY-SA 3.0 DE Jörg Behrens