​Zur Kommentarkultur: Facebook ist kein Spiegel der Gesellschaft

Auch, wenn es einem manchmal so scheint ist Facebook kein Spiegel unserer gesellschaftlichen Zustände und Normen. Die Rechten nehmen dort Überhand weil die Anständigen nichts tun. Aber sie sollten.

Um nun positiv zu werden: das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.
Bertolt Brecht – Radiotheorie

Das Zeitalter des „denkbar großartigste[n] Kommunikationsapparat[es]“ haben wir nun erreicht. Das Internet hat jedem Menschen, der Zugriff darauf hat, zahllose Möglichkeiten gegeben sich auszudrücken. Und fast jeder nutzt diese Möglichkeiten – auch öffentlich. Es ist im Internet ein öffentlicher Diskurs entstanden. Facebook und Twitter haben gesellschaftliche Diskurse und Funktionen so stark erweitert, dass jeder an ihnen teilnehmen und definierend sein kann.
Während vor 10 Jahren noch die Torwächter der klassischen Medien Anzeiger, Filter und Regulativ des Zustands gesellschaftlichen Haltung waren, verlieren sie heute zumindest die Funktion des Filters. Es gibt kein aufwändiges Hindernis – wie das Einsenden eines Leserbriefs – mehr, um der Zeitung die eigene Haltung zu vermitteln. Das Internet hat diese, wie tausende andere, Hürden beseitigt und sie durch Komfort ersetzt.

Der Luxus des Stammtischs

Keinem in Deutschland ist es noch technisch verwehrt, die eigene Meinung öffentlich mitzuteilen. Das ist gesellschaftlich wie kulturhistorisch nicht weniger als blanker Luxus, man könnte sagen: revolutionär. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Beträge zum Diskurs wertvoll sind. Aber das müssen sie auch nicht sein. Es gibt keine hehre gesamtgesellschaftliche Diskussionskultur, sie hätte auch nie entstehen können. Sie wurde schlicht durch die medialen Filter verhindert. Der Idee einer gesamtgesellschaftliche Diskussionskultur kommt höchstens die Stammtischkultur nahe. Hier redet jeder mit jedem über alles. Die Kompetenz und Richtigkeit dieser Diskussionskultur wurde nie ernsthaft in Frage gestellt, weil sie niemand ernst- oder wahrnahm, denn sie endet an der Kneipentür. Mit dem Auftreten des brecht’schen Kommunikationsapparates ergießt sich dieser Stammtisch allerdings seit Jahren in eine räumliche und zeitliche Unendlichkeit.

Falsch und Vergessen

Am Stammtisch kommt es zu betrunkenen Fehltritten ebenso wie zu Schnellschüssen, zu Fehlern, die am nächsten Morgen wieder vergessen sind. Menschen müssen falsches und unbedachtes sagen dürfen. Sie müssen auch lernen dürfen, dass es falsch war und es bereuen dürfen. Menschen sagen viel falsches und oft Dinge, bei denen man nicht sicher sein kann, wo das Falsche beginnt.

Im Internet verschwinden die Beiträge nicht so schnell – mit der Zeit wird bloß der Zugriff darauf wird schwieriger. Eine Facebook-Diskussion von vor 2 Jahren ausfindig zu machen, grenzt oft an eine Herkulesaufgabe, aber sie ist da irgendwo – man könnte sie finden wenn man wollte. Vergangene Fehltritte bleiben also noch für ein paar Tage leicht verfügbar und für Jahre erhalten. Man sagt zwar, dass Internet vergesse nichts, aber das Internet hat schon mehr vergessen, als die Menschheit zuvor an Wissen produziert hat. Giganten des Gegenwärtigen Internets können in einem Jahr längst Staub sein. 2001 fusionierten der weltgrößte Internet-Provider AOL und einer der größten Medienkonzerne Time Warner zu AOL-Time-Warner. Das war die größte Firmenfusion im Medienbereich der damaligen Zeit. Von beiden ist fast nichts mehr geblieben.
Es ist nicht so, dass wir uns bei jedem Quatsch, den wir posten, in ein ewiges Fegefeuer begeben. Wer nicht glaubt, dass das Internet vergisst, möge mal sein StudiVZ-Profil vorzeigen.

Facebook ein digitaler Stammtisch

Facebook hat die Kommentarkultur in Deutschland und der Welt nicht schlechter gemacht. Facebook hat die Kommentarkultur in Deutschland nur sichtbarer gemacht. Alle Kommentare, die Facebook-Nutzer schreiben, sind nur eine Repräsentation der Haltung und Meinung dieser Menschen. Diese Meinungen können falsch sein, im Sinne von gesellschaftlichem Konsens, aber sie sind zu äußern. Es ist unerheblich ob ich für oder gegen Einwanderung, Kopftuchzwang, Kreuze in Klassenzimmern, Tempolimits auf Autobahnen, Nazis, Fleischkonsum oder Hundesteuer bin – jeder hat die Freiheit seine Haltung zu äußern.
Eine medial-regulierte gesellschaftliche Diskussion führt im besten Fall dazu, dass alle Positionen eine Stimme bekommen und diese Positionen äquivalenten Raum bekommen sich auszudrücken. Eine offene Diskussionskultur führt dazu, dass jeder der möglichst viel Raum für sich beansprucht und zudem auch noch wer den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Positionen bedient, den meisten Zuspruch erhält. Ohne Not verstärkt Facebook diesen Effekt sogar, indem es Kommentare mit den meisten Interaktionen hervorhebt. Wenn also in einem Kommentarblock eine Meinung prävalent ist, wird dieser nur noch verstärkt. Dieser Effekt ist aber kein originäres Facebook-Problem. Auch ein Dorf ist eine Filterbubble. Auch dort werden nur in der Peergroup genehme Themen auf genehme Weise verhandelt. Das führt aber nicht zwangsläufig zur politischen Radikalisierung, schränkt aber die Meinungsvielfalt ein. Wenn alle Bewohner des Dorfes mit denselben Problemen zu kämpfen haben, gibt es schnell eine diskursive-Monokultur, und Monokultur führt zu noch mehr Monokultur.
Wie im Dorf gilt auch bei Facebook, dass Dinge schneller gesagt, als getan sind. Ein hasserfüllter Facebook-Kommentar ist mal eben geschrieben, schneller jedenfalls als ein „Ausländer Raus!“-Schild gebastelt ist. Ein Klick geht schneller, als man „Recht haste, Erwin“ sagen kann. Auch in diesem Licht muss man die Facebook-Kommentare betrachten.

Der Ausstand der Aufrechten

Seit ein paar Jahren ist offensichtlich, dass die rechte Szene (alles jenseits der CSU) Facebook für sich entdeckt hat. Es wird über einen inflationären Anstieg von rechtem Gedankengut gesprochen, der sich in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Zweifellos sieht man kaum ein Beißreflexthema auf offiziellen Facebook-Seiten, bei dem nicht sofort eine Phalanx aus entsprechenden Kommentaren steht. Was man dort sieht, ist jedoch nicht die Stimme des Volkes: was man sieht ist die Stimme einer Szene, die sich nicht vor dem Internet verschließt. Die Prävalenz der rechten Kommentarflut im Internet ist da, weil keiner dagegen hält. Die politisch aktiven Linken halten sich von Facebook fern – des Datenschutzes wegen. Den politisch aktiven Rechten spielt das in die Hände. Eine globale Plattform von der man quasi ungehindert seinen Hass in die Kommentarspalten der Facebook-Seiten speien kann. Keiner bleibt verschont – von Bild bis FAZ, von PETA bis Til Schweiger und kaum jemand hält dagegen. Der „Aufstand der Aufrechten“, wie ihn Anja Reschke in den Tagesthemen am 6. August 2015 forderte, bleibt bis auf weiteres aus. Man lässt lieber den gesellschaftlichen Diskurs auf Facebook entgleiten, als preiszugeben, wie man heißt und dass man sich für Franz-Josef Degenhardt interessiert.
Wenn sich eine linke Haltung im Internet ausdrücken will, dann tut sie das meist in dem sie sich schal über schlechte Deutschkenntnisse amüsiert, die fehlgeleiteten Kommentare genüsslich zur Schau stellt oder die Argumente der Bauernfänger ironisch spiegelt. Das ist zum einen billig und zum anderen zu wenig. Es wird eine Filterbubble bedient und gehofft, dass der nächste Nazi noch dümmer und noch schlechter gebildet ist. Als Höhepunkte werden die Momente gefeiert, in denen man den Arbeitgeber des Kommentators einsehen und denjenigen dort bekannt machen kann. Hinweise an die Polizei reichen nicht mehr.

Und wie heißt du?

Erstaunen verursacht dort auch, dass die braunen Facebook-User ihre Haltung problemlos unter Klarnamen posten. Das mag einerseits aus Unvorsichtigkeit passieren, aber andererseits ist es ihnen vielleicht egal. Vielleicht muss man ihre Haltung genauso wenig ernst nehmen, wie sie Facebook ernst nehmen. Oder ist die Haltung eher ernst zu nehmen, weil sie nicht unter Pseudonym verfasst wurde? Regelmäßig gibt es Rufe nach Pseudonymfreiheit auf Facebook, aber dann könnte jeder unter Pseudonym seine wie auch immer geartete Meinung äußern. Die Äußerung eines Stefan Meyer ist ein größerer Multiplikator als die einer Pipilotta Viktualia.

Aus den Augen – aus dem Sinn

Seit einigen Tagen werden die Rufe nach einem Eingriff durch Facebook in die Inhalte die, die User generieren lauter. Man solle lieber Nazis statt Nippel löschen. Der Ruf danach ist so fatal wie dumm. Wer die Kommentare löscht, tut nichts gegen ihre Ursprünge. Einerseits Facebooks sehr amerikanische Haltung zu Nacktheit als Eingriff in die Nutzerfreiheit zu geißeln, aber nach Löschung von missfälligen Kommentaren zu rufen zeugt von großer Hybris. Facebooks Löschverhalten und die Anwendung seiner Gemeinschaftsstandards sind seit jeher Gegenstand von viel Kritik. Keiner ist so recht zufrieden. Wären alle zufrieden, hätte man einem Unternehmen aufgebürdet, alle weltweit geltenden kulturellen Normen einzuhalten – gleichzeitig. Eine kafkaeske Forderung. Facebook verlässt sich auf das was seine Mitarbeiter kennen: Amerikanische Normen. (Es gibt Mitarbeiter aus den jeweiligen Ländern die sich um länderspezifische Löschungen kümmern, aber die Norm ist eine US-amerikanische.) Diese Normen sind manchmal strikter und manchmal laxer als die deutschen oder europäischen. Oftmals gegenläufig: Brüste sind ein No-Go und Hakenkreuze kein Problem.

​Die Dummheit der Anderen

Nazis sind nicht Nazis, weil sie so geboren sind. Nazis sind Nazis, weil sie dumm sind. Dass sie dumm sind ist die Schuld unserer Gesellschaft. Die Schuld einer Gesellschaft die ganze Landstriche verrotten lässt und sich einen Dreck um die sozialen und politischen Strukturen schert. Ein Land, eine Regierung, und eine Gesellschaft die zusieht wie auch die letzte Fabrik im Umkreis von 100 Kilometern schließt, nicht willens ist mich weiterzubilden und mir dann die Sozialhilfe auf ein Minimum kürzt, würde ich auch hassen. Wenn mir die Bild als Grenze des Wahrnehmungshorizonts zugleich fälschlich vermittelt, dass Geld für Flüchtlingshilfe da ist, aber nicht für meinen Lebensunterhalt, wäre ich verzweifelt. Und solche Nazis produzieren nur noch mehr von ihrer Art. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe dagegen zu halten, sofern die Gesellschaft das noch will. Dass die Gegenrede funktioniert, zeigte Sascha Lobo vor kurzem in seiner SPIEGEL-Online Kolumne auf. Sie ist also nötig und richtig und findet dennoch nicht statt, weil die meisten aufgegeben haben, bevor sie überhaupt angefangen haben was zu tun. Es ist unsere Aufgabe die Rechte Meinungsprävalenz zu minimieren und zwar dort wo sie sich organisiert und Netzwerkeffekte am stärksten nutzt: Bei Facebook. Die dortige Öffentlichkeit dem braunen Mob zu überlassen ist fahrlässig.

Bildquellen

4 thoughts on "​Zur Kommentarkultur: Facebook ist kein Spiegel der Gesellschaft"

Kommentieren ist nicht möglich.