Eine Nacht im Mobile. Eine Nacht geborgter Magie.
Das Mobile schloss 2003 und war eine legendäre Rockdisco in der niedersächischen Provinz, so legendär, dass es einen eigenen Artikel in der ZEIT bekam. Wir haben zwei ReporterInnen auf der Suche nach Magie zur Revival-Party geschickt.
Samstagabend ist Revival-Nacht im Mobile. Mathias schiebt die Kindersitze von der Rückbank, um Platz für uns zu machen. Auf dem Weg in den Rockschuppen seiner Jugend läuft Bruce Springsteen im Radio. In Mathias‘ Augen ist ein Noch-Kein-Mal-Schlafen Leuchten, während wir Merlin zuhören, wie er Christian Kortmanns Zeit-Artikel über das Mobile von vor 15 Jahren vorliest. „Das ganze Gerede von Clubculture und performativer Feier des Körpers ist doch Quatsch. Ich zeige dir, wo der Körper mit all seinen Schwächen wirklich gefeiert wird!“ Es klingt nach einem besonderen Ort: Ein Pink Floyd Fresko an der Wand, schwebende Stühle unter der Decke und eine Kabine, an der man die ganze Nacht Kaffee trinken konnte. „Und jedes Wort ist wahr“, sagt Mathias. Knapp drei Jahre nach Erscheinen des Artikels schloss das Mobile.
Die Landstraße von Hildesheim nach Bad Salzdetfurth ist leer. Das Kurörtchen, das auf seiner Homepage Erlebniswanderungen mit den Titeln „Hecken schmecken“ und „Tierspurbestimmung“ bewirbt, ist höchstens noch für seinen Kurpark bekannt. An Gabis Leserbriefe aus Schmidteinander erinnert sich keiner mehr. Der Abzug von Industrie und der Abbau von Infrastruktur sind ein langsamer Aderlass und nur Rentner und Salinen halten den Luftkurort noch auf der Landkarte.
Unterwegs halten wir bei einem Dönerladen in Groß Düngen, weil Aline Hunger hat und niemand genau weiß, ob es in Bad Salzdetfurth abends noch Essen gibt. Im Dönerladen liegen Flyer für den Erntedankmarkt „In und um das Alte Fachwerkhaus“. „Drechslerarbeiten, Handgenähtes aus Friesenstoffen und Leinentischdecken mit Spitze“ sollen dort feilgeboten werden. Das interessiert uns nicht – wir sind hier um uns zu stärken, bevor wir in den im Zeit-Artikel versprochenen „Uterus des Rock’n’Roll“ eintauchen.
Mathias kann das rosa Leuchten des Mobile, seinen Stern von Bethlehem, schon vom Lidl-Parkplatz aus sehen. Wir anderen sehen zwar ein Leuchten, aber was wir erleben, ist geborgte Magie, Nostalgie zweiter Ordnung, deren Versprechen sich noch einlösen muss. Eine kurze Anhöhe hinauf, stehen wir vor Staki´s Eck (sic!). Es sieht aus wie jede andere Provinzkneipe. Sie hat ein Schild, eine Tür und ein paar hochgestellte Stühle unter großen Sonnenschirmen. Hinter dem Thekenraum, in einer Art angeschlossener Scheune, soll sich das Mobile befinden.
Wir wollen nicht nur das Pink-Floyd-Fresko sehen, sondern auch die Menschen, die damals hier waren: Diese Charaktere, die wir vage zu kennen glauben, weil sie auch zu unseren Konstanten der Dorfjugend gehörten. Typen, die Manni, Matze und Bernd heißen, die Jeanskutten tragen und immer da sind. Vielleicht eine Annette, die im Batikrock zu Smells like Teen Spirit tanzt und das Mädchen, das nie eigene Zigaretten hat. Die Kneipe ist wie ein Tor: sie gehört dazu, doch außer dem Hindurchgehen scheint sie keinen Daseinszweck zu haben. So schieben wir uns an der Theke vorbei, vorbei am Gilligans-Island-Flipper und unter dem blau-weißen Kroatien-Sammelteller hindurch, und wissen nicht, was uns dahinter erwartet. Mathias‘ Schritt beschleunigt sich, bis er in den Rauschschwaden zu verschwinden droht, wie ein Held der sich den verloren geglaubten Rockolymp zurück erobern will. Jäh wird er gestoppt vom Türsteher. Für den Rockolymp muss man Eintritt zahlen. Zehn Euro, davon 7,50€ für Verzehrbons. So erhält jeder von uns ein Briefchen mit Abreisskärtchen und einen Stempel auf die Hand.
Das Pink-Floyd-Fresko hat der Zeit nicht standgehalten. Jeder Quadratzentimeter des Raums ist mit schneeweißer Wandfarbe überzogen. Kein schwebender Stuhl mehr. Nur wenige Fragmente des alten Mobile blitzen durch: Der nikotinbraune Stoff unter der Decke ist noch da. Verschraubungen von entfernten Sitzbänken schauen aus der Wand, Die DJ-Kabine ist da, wo sie war und es gibt Kaffee. Die Struktur steht es noch, aber ihre Textur ist verschwunden. Das Mobile ist eine Veranstaltung in einer Mehrzweckveranstaltungshalle.
Wir vier setzen uns auf ein schwarzes Ledersofa zwischen einer Box, aus der gerade irgendwas von Def Leppard dröhnt, und einem Bistrotisch an dem Damen Mitte vierzig in Aluschalen aschen. Sie sehen aus als hätten sie 17 Jahre auf diesen Abend gewartet, und diese Jahre ausschließlich mit Rauchen zugebracht.
Es ist halb zehn und nur vereinzelte Gestalten sind auf der Tanzfläche. Man blickt dorthin, als schaute man der eigenen Erinnerung zu. Manche kommen für ein Lied, tanzen als würde niemand zusehen und verschwinden wieder in ihren Grüppchen. Ein Mann mit schwindendem Haaransatz, der im Karohemd seine Füße und Arme bewegt, als würde er langsam und rhythmisch Joggen, erinnert Mika an ihren Mathelehrer. Wir sind die jüngsten hier und wir fallen auf. Ein Typ, der uns Feuer gibt, sagt: „Viele hier sind Lehrer und haben halt keinen Bock ihre Schüler zu treffen“. Das erklärt auch den Argwohn, mit dem wir angeschaut werden, während wir uns durch die Menge zum Tresen schieben, um die Verzehrgutscheine in Bier zu verwandeln.
Auf den ersten Blick ist das Mobile all dessen beraubt, was es einmal gewesen sein könnte. Es gibt keine Annette mehr, kein Mädchen fragt uns nach einer Zigarette und niemand an der Bar trägt Jeanskutten. Die Menschen, die sich hier um die Tanzfläche versammelt haben, rauchen keinen Spliff mehr am Auto ihrer Eltern. Sie haben ihr eigenes Auto und sind selber Eltern. Man hört vereinzelt Wörter wie „Netto“ und „Brutto“. Neue Ehefrauen werden vorgestellt, jemand spricht über Krankenversicherungen und die Vor- und Nachteile von Flachdächern. Neil Young sagt, Rock’n’Roll can never die.
Den ersten Funken spüren wir Ende des ersten Biers und am Anfang von Blister In The Sun von den Violent Femmes. Man spürt, hier sind Lieder erlaubt, die unter anderen Umständen mit „totgehört“ kommentiert werden. Niemand hier bewegt sich ironisch und wir merken: Wir wollen nirgendwo anders sein, als hier. Mit AC/DC, Iggy Pop, Led Zeppelin und Genesis unter Peter Gabriel füllt sich die Tanzfläche. Und plötzlich tanzen wir alle, wir headbangen, spielen Luftgitarre und feiern den Körper mit all seinen Schwächen. Mathias tanzt in ekstatischer Trance, als seien Bässe und Gitarrensoli alles, was von der Welt noch übrig ist. Neben ihm: ein Paar, das den Eindruck macht, als habe es sich hier schon kennengelernt. Sein Tanz ist das Gegenteil eines Derwischs: Ein Wippen von solcher Simplizität und Beständigkeit, dass es fast hypnotisch wirkt. Ein Tanz, der nicht viel will und immer passt, wie ein Discofox-for-one. Sie hat ihr Suzy-Quattro-Kostüm aus dem Schrank geholt. Er trägt Strickpulli. Die Menge feiert, als hätte sie die letzten 17 Jahre aufzuholen. Und auch wir geben uns völlig hin, als der DJ einen nahtlosen Übergang zwischen Fatboy Slims Rockafeller Skank und der zehn Minuten Fassung von Birth Controls Gamma Ray hinlegt.
Man wird neidisch auf eine Jugend, die sich an einem Ort manifestiert. Vielleicht war es das große Glück der Mobile-Gänger, dass ihr Laden schließen musste. Etablissements wie diese existierten überall, hießen Point One, Exit, Farmer’s Inn, Rockfabrik oder Schlucklum und lagen in Dörfern wie Uetze oder Lucklum, doch sie waren außerhalb ihrer Klientel nicht bekannt. Jetzt sind sie eingefroren in der Zeit, Orte, um für einen Abend zurückzukehren. Das ist es auch, was diesen Abend von einer ordinären 80er oder 90er-Party unterscheidet. Auf den ersten Blick ist er all dessen beraubt, was er einmal gewesen ist. Doch die Nostalgie zweiter Ordnung kann ihr Versprechen halten, weil die Magie noch in den Menschen lebt.
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