The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: vox ex machina – Nachträgliches Soufflieren bei Bundestagsdebatten

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Bundestagsdebatten

Wenn man als Kritiker besonders gemein sein will, weist man auf das sogenannte Mickey-Mousing eines Films hin. Was genau es mit Disneys Comicmaus zu tun hat, ist unklar, gemeint ist damit jedenfalls, daß etwas gesagt wird, was man sowieso schon sehen kann. Beispielsweise entdecken zwei Filmfiguren die Leiche eines Mannes mit einer Axt im Schädel, einer sagt: „Das kann kein Selbstmord gewesen sein.“, woraufhin der andere ganz erschrocken stammelt: „Du meinst, es war Mord?“ Allerdings ist der Maßstab für das, was man sowieso schon sehen kann, von Kritiker zu Kritiker verschieden, je nachdem, wie gut oder schlecht man den Film machen will.

Was sind aber die Gründe für Mickey-Mousing? Uralte Traditionalisten würden natürlich sagen, daß der Film sowieso keinen Ton benötige, daß der Stummfilm die avanciertesten visuellen Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt hatte und die Einführung der Sprache einen Rückschritt bedeutete. Das mag vielleicht für einige wenige Filme am Ende der Stummfilmzeit zutreffen, aber das Gros der Filme bombardierte den Zuschauer geradezu mit Zwischentiteln. Und diese Zwischentitel folgten meistens dem Schema der Leiche mit der Axt im Kopf. Trauten (und trauen) die Filmemacher ihren visuellen Erzählmöglichkeiten nicht? Mein(t)en sie, daß das Publikum zu begriffstutzig sei?

Auch wenn es dem elitären Bildungsbürger in uns gefallen würde, so ist es einfach nicht. Im Gegenteil. Durch die Zwischentitel wurde jeder der Zuschauer in die Rolle eines Bildungsbürgers versetzt, der über die Dummheit der anderen den Kopf schütteln und sich selbst als Angehörigen einer elitären, avantgardistischen Gruppe begreifen konnte. Einer Gruppe, die längst schon begriffen hatte, was mit dem Gezeigten gemeint war, und sich durch die nachträgliche Verschriftlichung sicher sein konnte, daß sie es tatsächlich schon begriffen hatte. Nun konnte man nachsichtig auf all die anderen herabsehen, die anscheinend noch diese Zwischentitel nötig hatten.

Es ist nicht zu ermitteln, wer dort draußen die Übertragungen von Bundestagsdebatten im Fernsehen verfolgt. Alle, die es tun, werden jedenfalls mit einem dem oben beschriebenen sehr ähnlichen Phänomen konfrontiert. Zum Beispiel sieht man Redner X, der gerade zum Thema Ausländerfeindlichkeit einen zehnminütigen Beitrag liefert. Getreu den verschiedensten Ratgebern konzentriert er sich auf eine Kernaussage, daß nämlich der Angriff auf Ausländer ein Angriff auf die Demokratie in Deutschland sei. Diese Kernaussage wiederholt er mehrere Male und unterstützt sie mit Beispielen. Kaum hat er geendet kommt eine Stimme aus dem Nichts, die dem sogenannten Kommentator der Debatte gehört, und erzählt dem Zuschauer, daß er gerade Redner X gehört habe, der zum Thema Ausländerfeindlichkeit Stellung bezog und der der Ansicht sei, der Angriff auf Ausländer sei ein Angriff auf die Demokratie. Nun wird sich der Zuschauer aufregen, für wie doof man ihn eigentlich hält. Denn jeder Sonderschüler hätte doch kapiert, was Redner X sagen wollte, außerdem lagen keine zehn Sekunden zwischen seiner expliziten Formulierung und der Wiederholung durch den Kommentator. Und beweist mit dieser Aufregung, daß der Kommentar genau die Wirkung hatte, die er haben sollte.

Denn ähnlich wie bei den Zwischentiteln im Stummfilm dient das nachträgliche Soufflieren nicht der Informationsvergabe, die ist tatsächlich schon vollzogen worden, sondern der Rollenzuweisung und der Identitätsstiftung. Der Zuschauer erkennt sich als mündigen Bürger, der ein solches Mickey-Mousing gar nicht mehr nötig hat, weil er Politik tatsächlich versteht. Es entsteht das Gefühl, daß Demokratie tatsächlich die Herrschaft des Volkes ist, weil die geäußerten Meinungen und Vorschläge so selbstverständlich sind, daß sie von jedem hätten gemacht werden können.

Der Impuls zu dieser Staatsbürgerkunde ging sicherlich von der Politik selbst aus, die in den Aufsichtsräten der öffentlich-rechtlichen Sender eine solche Taktik ausklügelten. Übertragungen von Bundestagsdebatten finden ja auch nur in ARD, ZDF und neuerdings im Recyclingkanal PHOENIX statt (daß auch NTV mitmischt, hat eher mit einem Minderwertigkeitskomplex und einem Assimilationsbedürfnis zu tun). Dem Fernsehen war es allerdings recht, denn in dieser ganzen staatstragenden Didaktik konnte es sich selbst schön verpacken und an den Mann und die Frau bringen.

Denn das ureigenste Wesen des Fernsehens ist das Tautologische. Die technische Möglichkeit der Echtzeit-Übertragung führt genau zu dem beschriebenen Phänomen. Das Senden eines Geschehens im Moment seines Geschehens kann nur diese Tatsache zum Inhalt haben. Der Zuschauer überspringt das Medium und wähnt sich selbst als Beobachter des Wichtigen. Die kritische Leistung wird nun ihm zugewiesen, eine Privilegierung, die ihn auf ewig an dieses Medium schmiedet. Denn weil er seinen Augen nicht traut, muß er weiter gucken, um sich sicher sein zu können. „Machen Sie sich das ganze Bild“ wirbt PHOENIX der Ereigniskanal und schickt den Zuschauer in eine sich ins Unendliche verlängernde Übertragung.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens