The sun always shines on tv

The sun always shines on TV: Das lebhafteste Leben ihres Lebens – Werbung als Mehrwert

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Teil 7 (5. November 2000)

Ein Mädchen sitzt mit unbewegter Miene am Küchentisch, während um sie herum ein älteres Pärchen turtelt und tänzelt, etwas gedämpft zwar mit Rücksicht auf die Anwesende, aber sie können es nicht ganz unterdrücken. Der Mann serviert schließlich Suppe. Das Mädchen löffelt, ihre Miene hellt sich auf, sie öffnet den Mund erneut, dieses Mal sogar, um zu sprechen: Der Mann darf bleiben, sie hat ihn als den neuen Partner ihrer Mutter akzeptiert. Für sich allein genommen, wäre diese Fernsehwerbung nicht symptomatisch. In Verbindung mit einer anderen Reklame für Waschmittel schon. Dort erzählt ein anderes junges Mädchen von ihrem alleinstehenden Vater, dessen neues blaues Hemd seine Libido reanimiert hat, so daß sie ihm jetzt öfter die Wohnung für sich alleine überlassen muß, damit sie bei den dates nicht abtörnend wirkt. Die werbetreibende Industrie hat die Alleinerziehenden als Zielgruppe entdeckt, läßt sich als Hypothese von diesen empirischen Daten ableiten.

https://www.youtube.com/watch?v=TATPOUTPdWg

Daß Werbung den Zeitgeist widerspiegelt, wird jeder mit Hinweis auf ihre Ästhetik bestätigen. Begegnet man Werbefilmen von vor fünf Jahren auf der Videokassette mit dem Mitschnitt eines Spielfilms, so ist man immer wieder erstaunt, wie anders das alles damals aussah. Eine Zeit lang war die Bildästhetik der Werbung sogar dauerhafter, sie setzte Maßstäbe, die von anderen Medien aufgegriffen wurde und in ihren Produkten konserviert wurde. Diese Avantgardefunktion hat Werbung jedoch längst an Musikvideos abgegeben, deren Innovationen sie nun wiederum aufgreifen und verarbeiten muß. Der Einfluß, den Werbung heute auf die allgemeine Ästhetik hat, ist nur noch flüchtige Bestätigung des momentanen Standards. Alles, was davon abweicht, wird nur noch als peinlich oder als lächerlich veraltet wahrgenommen.

Beispielsweise die den 50er Jahren verhaftet gebliebene Dentalpflegezubehörwerbung. Da finden sich immer noch obskure Forschungslabors, deren bahnbrechende Erkenntnisse sofort in neue Produkte umgesetzt wurden. Das führt zu eklatanten Widersprüchen, die jeden Politiker zum Rücktritt zwingen würden. Eine elektrische Zahnbürste wird angepriesen, weil die Forschungsabteilung gerade festgestellt hat, daß es Zahnzonen gibt, die eine herkömmliche Zahnbürste nicht erreicht. Schön und gut, aber dieselbe Firma hat mir jahrelang herkömmliche Zahnbürsten mit der Versicherung verkauft, daß sie genau die Zahnzonen erreichen würden, die sonst vernachlässigt bleiben. Es scheint, daß zu irgendeinem Zeitpunkt gelogen worden sein muß. Warum man nun also in das neue Produkt vertrauen soll, bleibt unverständlich. Niemand denkt aber so. Die Rabulistik wird als ein für alle durchschaubares und akzeptiertes Protokoll verstanden, mit dessen standardisierter Form man die eigentliche Information übermitteln kann: Es gibt von dieser Firma jetzt auch eine elektrische Zahnbürste. Und die sind zur Zeit gerade in Mode.

Dieser Werbespot hat erkannt, daß es auf die Ästhetik dann doch nicht ankommt. Für den Moment mag etwas Ausgeklügeltes zwar faszinieren, morgen aber wird es schon genauso lächerlich anmuten wie die gestrige Standard-Rabulistik dem heutigen Zuschauer. Was bleibt aber, stiften die Umstände. Elektrische Zahnbürsten werden gesellschaftlich verankert sein. So wie einst Küchenmaschinen und Werkbänke im Diskurs verankert wurden. Oder heute die auch ökonomisch funktionierende Alleinerziehendenfamilie auf dem Weg zu erneuter Dreisamkeit. Die grassierenden Generationserinnerungen von Generation Golf bis Alles Bonanza zeigen nämlich, daß die Warenwelt nicht nur zum Verbrauch bestimmt ist, sondern auch das Weltbild prägt (was allerdings schon seit Marxens Zeiten gilt, die diversen Kriege haben diese Funktion nur überdeckt). Fernsehgeschichtlich gesehen ist Werbung das, was am meisten zur Veränderung von Einstellungen geführt hat. Kein Wünsch Dir Was oder ZAK, ZDF-Magazin oder Löwenzahn hat das vermocht. Sendungen haben immer denselben Inhalt und werden nur in immer neuen Formen wieder aufbereitet. Nur Werbung hat einen Inhalt, und der bleibt. Mithin heben sich die diversen Erscheinungen der Sendungen gegenseitig auf, während das Einzige, das tatsächlich existiert, die Werbung ist.

Das läßt sich nicht nur mit gefälliger Hermeneutik behaupten, sondern auch mit strukturalistischen, also quasi naturwissenschaftlichen Gleichungen herleiten. Das System Fernsehen in seiner von öffentlich-rechtlichen, GEZ-verzerrten Aberrationen bereinigten Form läßt sich auf drei Teilnehmer reduzieren: Zuschauer, Sender, Firmen. Diese drei Teilnehmer lassen sich in einen geschlossenen Produktions-Konsumptions-Kreislauf einpassen. Die Firmen zahlen Geld an Sender, damit sie Werbung für sich machen können. Die Sender setzen das Geld in Programm um, das Zuschauer binden soll. Die Zuschauer fühlen sich gebunden und kaufen vorher oder nachher Produkte der Firmen. Jeder Teilnehmer empfängt also und setzt das Empfangene in ein Produkt um, das er an einen anderen Teilnehmer weitergibt. Geld, Programm und Geld lassen sich, weil strukturell äquivalent und in einen Kreislauf eingebunden, aus dem System herauskürzen. Übrig bleibt die Werbung, für die die Firmen die geistige und die Sender die materielle Urheberschaft reklamieren können. Beide setzen Kapazitäten ein, für die keine unmittelbare Kompensation stattfindet. Auf der anderen Seite empfängt der Zuschauer ein Produkt, für das er wiederum keine Kapazitäten aufwenden muß. Im Gegensatz zum geschlossenen Produktions-Komsumptions-Kreislauf der Programmentstehung ist hier eine lineare Ausrichtung vorhanden, die einen Akkumulationsprozeß bewirkt.

Der Stoßseufzer des gemeinen Fernsehrezipienten, daß mal wieder nur Werbung läuft, entbehrt also jeglicher Übertreibung. Strukturalistisch gesehen gibt es tatsächlich nichts anderes im Fernsehen. Werbung ist der einzige Mehrwert, den es produziert und den der Zuschauer für sich behält. Kein Wunder, daß man damit ein Weltbild aufbaut, denn alles andere ist in diversen Kreisläufen versickert. Was genau in Na Sowas mit Thomas Gottschalk oder in MAZ ab mit Harald Schmidt passiert ist, weiß heute kein Mensch mehr, das wurde einfach wegkonsumiert. „Jod-S11-Körnchen“ oder das „TAED-System“ aber werden bleiben als Marker für die gesellschaftliche Überzeugung, daß Zusatzstoffe die Wirkung eines Produkts optimieren können.

Daß Werbung einen Mehrwert bedeutet, konnte natürlich auch dem Fernsehen nicht verborgen bleiben. Aufgeschreckt durch den Erfolg der jährlich zusammengestellten Cannes-Rolle, die ihre Runde durch die Kinos macht, begann man, diesen Mehrwert selbst abzuschöpfen und in den Verwertungskreislauf rückzuführen. Product-Placement ist da noch die harmloseste Praxis. Viel effizienter ist die Direktverwertung in Sendungen wie HotSpots, Die dicksten Dinger der Welt oder Die witzigsten Werbespots der Welt. Die, weil sie ja Programm sind, auch wieder von Werbespots unterbrochen werden können. In denen sich wieder Material für die nächste Sendung verbergen könnte. Wir Zuschauer sollten uns gegen diesen Diebstahl unseres Eigentums wehren!

  • Kleine ideologiekritische Übung: Finden Sie die rabulistische Sollbruchstelle in obiger Argumentation.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens