Ihme-Zentrum: Die Märchenburg von Hannover
Vergesst den Altbau, Beton gehört die Zukunft. Unser Gastautor Constantin Alexander glaubt daran, dass wir neue Konzepte für die Stadtentwicklung brauchen. Als Beweis ist er ins wohl umstrittenste Viertel Hannovers gezogen: das Ihme-Zentrum. Und hat nun ein Crowdfunding für einen Film über die umstrittene Bauruine gestartet.
Als ich im Sommer 2014 ins Ihme-Zentrum in Hannover zog, fragte mich ein Freund, ob ich nicht Angst hätte. Angst, dass ich überfallen werden würde. Das Ihme-Zentrum sei ja schließlich ein Ort der Gewalt, der Kriminalität. Dort würden Mädchen verschwinden, Junkies hausen und immer wieder Menschen aus Hochhäusern springen. Ich sagte Nein. Ich hätte keine Angst, sondern Lust auf ein Abenteuer.
Man muss dazu wissen, dass das Ihme-Zentrum bei vielen Menschen als das schlimmste Viertel Norddeutschlands gilt. In der lokalen Presse wird dieses Quartier am Rande der niedersächsischen Landeshauptstadt seit Jahren nur Betonburg genannt. Die unteren Stockwerke dieser Stadt in der Stadt waren einmal ein Einkaufszentrum und sehen inzwischen aus wie ein Schlachtfeld: offene Leitungen, roher Beton, Graffiti, Fettecken, Tauben, dunkle Ecken und eine scheinbar unübersichtliche Struktur – Psychologen nennen so ein Gelände einen Angstraum. Freunde nennen mein Zuhause Ghetto oder Slum. Im hannoverschen Tatort würde Frau Burda aka Lindholm dort sofort einen Hinterhalt wittern. Sprich: Es ist genau das Gegenteil vom Altbau mit Stuck an der Decke, Dielen als Fußboden und einer romantischen, aber energieineffizienten Ofenheizung. Und ich finde es richtig geil.
Viele Menschen in meiner Stadt wollen mein Viertel ausmerzen, plattmachen oder wegsprengen. Wutbürger reagieren auf das Ihme-Zentrum wie auf alles, was sie nicht verstehen. Sie wissen nicht, in was für einer geilen Märchenburg ich lebe. Was für ein fantastischer Abenteuerspielplatz das hier ist. Das Ihme-Zentrum ist kein Haus, es ist eine Tragödie, der ich ein Happy End wünsche.
Deshalb bin ich reingezogen und mache eine sogenannte Umweltanalyse. Dabei untersuche ich die Gründe, warum dieser Stadtteil von vielen als gescheitert gesehen wird und wie die Herausforderungen gemeistert werden können, damit hier ein neues nachhaltiges und kreatives Wahrzeichen entstehen kann.
Brutal
Der Baustil, in dem das Ihme-Zentrum gebaut wurde heißt Brutalismus. Mal ehrlich: Brutalismus klingt einfach wahnsinnig gut. Es klingt nach Büchern wie Fight Club, Filmen wie Drive oder Bands wie Refused. Als ich am Anfang meiner Recherche den Hintergrund dieser Architekturform nachlas, offenbarte sich mir eine komplett neue Welt: Brutalismus hatte natürlich nichts mit Brutalität zu tun, sondern kam vom französischen Wort für Rohbeton: Beton brût. Ich las viel über die Zeit, in der dieser Baustil prägend war: Die Nachkriegsmoderne war – entgegen der Klischees – nicht nur eine piefige und gesellschaftlich bleierne Zeit, sondern genau das Gegenteil: Die Literatur wurde durch die Beatpoeten, Hunter S. Thompson, Philip K. Dick oder Adorno revolutioniert. Musiker wie die Beatles, Rolling Stones, Miles Davis, The Who oder The Doors brachten ihr Publikum zum Ausrasten. Die Kunst riss alles vorher Dagewesene ein und schuf sich neue Regeln. Sprich: Es war eine der wildesten Zeit in der Menschheit überhaupt.
Ich stellte mir vor, wie einige der Architekten zu der Zeit auf zu viel Kaffee und Marihuana Ideen schufen, die mitunter so revolutionär, mutig und kreativ waren, wie die Studenten auf den Münchner, Pariser oder Berliner Straßen der wilden 1960er-Jahre. „Wir haben damals Menschen auf den Mond geschickt“, erzählte mir einmal der Architekt, Dozent und Zeitzeuge Ekkehard Bollmann, der mir viel bei meiner Recherche zum Ihme-Zentrum half. „Mondfahrten können wir heutzutage nicht mehr.“
Er hatte Recht: Dass, was sich wie ein roter Faden durch diese wilde Zeit zog, war das Bewusstsein der Menschen. Es war das letzte Jahrzehnt, in der Westen noch so etwas wie eine positive Zukunftsvorstellung hatte. Vor die Ölkrise und bevor der berühmte Aufsatz Die Grenzen des Wachstums des ökokritischen Think Tanks Club of Rome die Ära des vermeintlich ewigen Wachstums brutal beendeten. Der Bauherr des Ihme-Zentrums, ein Mann, der auch schon mal mit dem Helikopter seine Baustelle begutachtete, bekam 1973 selbst Zahlungsprobleme wegen der Ölkrise. Um die Insolvenz abzuwenden, ließ er das Ihme-Zentrum einfach dreieinhalb Mal größer bauen als überhaupt genehmigt. Die Stadt bewilligte das Ganze zähneknirschend. Als es 1975 dann fertig war, befand sich der Westen in seiner ersten großen Nachkriegsdepression. Auf einmal wurden wieder Wörter wie Massenarbeitslosigkeit und Rezession benutzt. Und das Ihme-Zentrum war, genau wie Experten gewarnt hatten, viel zu groß.
Wann haben wir aufgehört zu träumen?
Das Ihme-Zentrum war einer der Versuche Hannovers, modern zu werden. Während die Altbauten drumherum vergammelten, der
namensgebende Fluß Ihme eine chemisch verseuchte Kloake war und die Innenstadt mühselig neu aufgebaut wurde, entstand auf dem ehemaligen Industrieareal ein Zukunftsversprechen. Es sollte ein U-Bahnhof gebaut werden, ein Yachthafen, ein Schwimmbad, eine eigene Welt, die sich von der realen abgrenzte, ja, die diese regelrecht verachtete: Denn das Ihme-Zentrum wurde in den alten Arbeiterstadtteil Linden wie eine Trutzburg gesetzt.
Wenn man heute durch das quirlige, bunte, lebenswerte Linden läuft, kann man sich nur schwer vorstellen, dass diese schönen Häuser platt gemacht werden und ebenfalls durch Betonburgen ersetzt werden sollten. Bis heute gibt es das Gerücht, dass in dem innenstadtnahen Quartier sogar ein kleiner Atomreaktor gebaut werden sollte. Für so einen verwegenen Plan hätte man wirklich Vertrauen in die Zukunft gebraucht. Dank der ersten Demokratisierungswelle in der Stadtpolitik und der Umweltbewegung wurden solche unnachhaltige Pläne aber aufgehalten und das Quartier sinnvoll umgestaltet. Heute treffen sich hier die Hipster, die Bio-Helikoptereltern und die Wachsjackenträger aus den Vorstädten auf einen fair gehandelten Kaffee, einem Craftbeer oder einem leckeren Wein aus der Kooperative. Und so tolerant diese Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung sind, so sehr verachten sie das Ihme-Zentrum. Das finde ich sehr schade.
Zynismus ist der Feind
Natürlich ist es einfach, das Ihme-Zentrum nicht zu mögen. Es sich sogar wegzuwünschen. Auch dieses Bedürfnis aus einem wohl eher zynischen Teil der Bevölkerung habe ich in meiner Umweltanalyse untersucht und klare Ergebnisse gefunden. Aus einer ganzen Reihe von Gründen ist ein Abriss nicht möglich: Das Ihme-Zentrum ist das größte zusammenhängende Betonfundament Europas, die Menge an Schutt und Sondermüll und der frei gesetzte Staub hätten katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Man würde Tausende wohnungslos machen, und auch finanziell wäre das Ganze unmöglich: Schätzungen gehen davon aus, dass ein Abriss etwa 250 Millionen Euro kosten würde, plus die Entschädigungszahlungen für die rund 550 einzelnen Wohnungsbesetzer. Das ganze Grundstück ist keine 250 Millionen Euro wert. Es gibt kein Unternehmen und keine Kommune, die so etwas stemmen könnten, um danach auf dem Grundstück einen Park zu errichten oder Luxuswohnungen. Hannover ist nicht New York oder London, wo Großimmobilienentwickler einfach Sim City spielen können.
Die Hannoveraner müssen also mit dem Ihme-Zentrum leben. Angela Merkel würde so etwas alternativlos nennen. Doch das muss nichts Schlimmes sein. Denn auch wenn das Quartier ästhetisch herausfordernd ist, hier stehen große Flächen leer. Die Lage ist perfekt, und in Hannover gibt es immer mehr Menschen, die sich ein Leben abseits eines 9-bis-17-Uhr-Jobs wünschen und dafür Raum suchen. Um Visionen für eine Wiederbelebung des Ihme-Zentrums zu suchen, unterhalte ich mich seit anderthalb Jahren mit Menschen aus allen Bereichen: Architekten, Stadtplanern, Ingenieuren, Designern, Künstlern, Sportlern, Sozialarbeitern, Handwerkern – und alle sagen mir: Das Ihme-Zentrum kann repariert werden. Die größte Herausforderung dabei ist aber das Image.
Um den Menschen die Angst vor diesem Viertel zu nehmen und ihnen zu zeigen, was sie all die Jahre ignoriert haben, habe ich im Winter 2014 angefangen, kostenlose Rundgänge mit Interessierten zu machen. Bis heute waren es mehr als tausend Menschen, die kamen und die mir durchweg positive Rückmeldungen geben. Viele von ihnen sehen das Ihme-Zentrum inzwischen so wie ich: als eine Chance für Hannover, sich für die Zukunft als kreativer, innovativer und nachhaltiger Standort zu platzieren.
Damit sich dieses Bewusstsein noch weiter schärft drehe ich mit einem kleinen Team an Gleichgesinnten eine Dokumentation. Sie soll zeigen, warum das Ihme-Zentrum mal ein Traum war, wieso Spekulation das Quartier ruiniert hat und wie eine Zukunft aussehen könnte, wenn kreative, ökologisch und sozial bewusste und nachhaltig lebende Menschen die Chance bekämen, daraus einen neuen Leuchtturm zu machen.
Ich weiß nicht, ob es realistisch ist, dass das Ihme-Zentrum in zwanzig Jahren das geilste Viertel Norddeutschlands ist. Ich arbeite als Nachhaltigkeitsberater, da ist eine gesunde Portion Optimismus quasi Berufskrankheit. Daher hoffe ich, dass die Menschen verstehen, dass ein Problem auch eine Herausforderung sein kann, die man begehen und auch lösen kann. Oftmals sogar muss. Und um dies zu erkennen, muss man vor allem den Zynismus und die Angst überwinden, den viele angesichts der aktuell wirklich bewegenden und bewegten Zeiten wie einen Schutzkokon um sich gesponnen haben.
Zurück in die Zukunft
Ich möchte mich auf die Zukunft freuen können. Und in dieser Zukunft ist aus der Märchenburg Ihme-Zentrum ein buntes Haus geworden. Eines, das mehr Energie erzeugt, als es selbst verbraucht und in der Wasser recycelt wird. In dessen Proberäumen und Ateliers, Werkstätten, Büros und Open Spaces Kunst, Musik, Literatur und wunderbare Computercodes entstehen. Auf dessen Dach Bienen Honig machen und in dessen Gemeinschaftsgärten die Kinder aus der Kita und der Schule lernen, wie Gemüse wächst. In dessen Hochschule junge Menschen lernen, wie Architektur, Design, Raumplanung, Wirtschaft, Jura und Handwerk zusammen funktionieren. In dem sich Menschen barrierefrei bewegen können. Wo es eine Markthalle gibt, wo ich das Gemüse kaufen kann, das ein paar Stockwerke darüber wächst oder wo ich an einem der Food Trucks das Essen aus der ganzen Welt probieren kann. Dessen Wände dank toller Street-Art zu Gemälden wurden, zu vertikalen Gärten, zu Kletterwänden, und auf jeden Fall gibt es eine Rutsche zur Ihme.
Hannover möchte in rund zehn Jahren Kulturhauptstadt Europas sein. Anstatt für teures Geld ein neues Kulturzentrum zu bauen, könnte die Stadt mit dem Ihme-Zentrum beweisen, dass eine Transformation unter nachhaltigen Gesichtspunkten möglich ist. Das ist meine Motivation.
Die Dokumentation Das Ihme-Zentrum – Traum Ruine Zukunft braucht deine Unterstützung. Hier geht es zum Crowdfunding.
Mehr von Constantin Alexander übers Ihme-Zentrum gibt es in seinem Blog Experiment Ihme-Zentrum.
Bildquellen
- 1501-ihmezentrum-foto-3: Constantin Alexander
- img_7494: Constantin Alexander
- _MG_7304: Jan Fischer
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