Johannes Grenzfurthner über Traceroute: Unterwegs mit dem Leitnerd
Johannes Grenzfurthner hat für die Dokumentation Traceroute 40 Jahre seines Lebens als Nerd in einen rasanten Road Movie gestopft. Herausgekommen ist die brillant brüchige Biografie einer kaum fassbaren Spezies. Zebrabutter-Autor Thomas Kaestle durfte sie schon mal vorab sehen. Und unterhielt sich danach mit dem Filmemacher über Leidenschaften, Referenzen und den ganzen Rest.
„A brilliant lunatic of surpassing and delightful weirdness.“ Wer mit solchen Worten von Cory Doctorow auf Boing Boing charakterisiert wird, braucht eigentlich kein Kleingedrucktes mehr. Das lohnt sich aber trotzdem. Gerade weil Johannes Grenzfurthner seit frühester Kindheit das heterogene und doch wundersam kontingente Leben eines Vorzeigenerds lebt. Geboren in der niederösterreichischen Provinz, verbringt er seine ersten 17 Jahre als Autor, Regisseur und Darsteller von Agenten- und Science-Fiction-Filmen, mit dem Bau von Zeitmaschinen sowie Konsum und Produktion von Cyber und Punk.
Dann gründet er monochrom als alternatives Magazin für Kunst, Technologie und Subversion, auf der Suche nach der „most effective weapon of mass distribution“. Da ist es gerade einmal 1993. Schnell erobert er damit alle damals denkbaren Medien, wird zu einem Pionier des Urban Hacking und prägt den Begriff des Context Hacking. Inzwischen arbeitet Johannes Grenzfurthner unter anderem auch für Boing Boing und Telepolis, lehrt an den Hochschulen in Graz und Linz, führt Regie bei Stücken am Wiener Volkstheater sowie bei Spiel- und Dokumentarfilmen. Er ist Leiter des Festivals Arse Elektronika (Konferenz für Sex und Technologie) und Co-Organisator der Roboexotica (des Festivals für Cocktail-Robotik). Er verbringt seine Zeit abwechseln in Wien, Colorado und überall sonst.
Die Grundidee hinter Traceroute ist so simpel wie effektiv: Johannes Grenzfurthner bereist die USA von West- zu Ostküste – auf den Spuren von Menschen und Dingen, die sein Nerdleben prägten. Aliens, Dinos, Meteoriten und Raketen. Filmschauplätzen, Grabmalen und Sperrgebieten. Autoren, Sammlern, Tüftlern, Außenseitern und Spinnern. Nerds in allen Schattierungen und Ausprägungen. Traceroute ist radikal individuelle Empirie, narrativ biografisches Puzzle und experimentelle Projektionsmatrix. Trotz permanenter Reizüberflutung macht das unglaublichen Spaß: Der Film kitzelt die Synapsen mit einem perfekt gemixten Cocktail aus kollektiv Vertrautem und verschroben Gewöhnungsbedürftigem. Wer gerade noch stolz darauf war, alle filmischen Referenzen lesen zu können, hat vielleicht schon die nächste popkulturelle Anspielung im Soundtrack verpasst. Traceroute ist Spiel, Herausforderung, Enzyklopädie und sentimental journey zugleich. Ist als Dokumentation äußerst geschickt konstruiert. Und als Narration ausgesprochen kompatibel. Dieser Film wird die Herzen erklärter Nerds im Vorbeifahren erobern. Und die all jener berühren, die noch ein wenig Erklärung benötigen.
Du stellst deinem Film ein Zitat von Margaret Atwood voran: „In the end we all become stories.“ Und tatsächlich machst du ja dich selbst mit all deinen Geschichten zu einer Erzählung. Wenn auch zu einer assoziativen, unvollständigen. Funktioniert so biografische Erinnerung? Ist sie immer narrativ konstruiert? Gibt es dabei einen Anspruch auf „Wahrheit“? Oder würden Menschen, die dich kennen, das alles ganz anders erzählen? Und: Ist biografische Erinnerung als gute Geschichte weniger oder mehr wert?
Der Mensch ist ein narratives Lebewesen. Wir konstruieren emotionale Maschinen, so genannte „Geschichten“, um zu kommunizieren, um Lebenswelt zu teilen und kollektiv erfahrbar zu machen. Und das können wir ziemlich gut. Seit der Urschleim sich irgendwann in Primatengehirne gemendelt hat, fliehen wir entweder vor Großkatzen oder erzählen anderen von der Flucht vor Großkatzen. Sitzen ums Lagerfeuer und deuten und teilen die Welt und laden sie auratisch auf. Zuerst war das mal sehr mythopoetisch und dann halt immer differenzierter. Aber selbst im Nachaufklärungszeitalter ist es ja nicht so, dass diese Weltdeutungen immer so besonders rational wären. Gute Geschichten verkaufen sich, und die besten Geschichten sind die, die an die metaphorischen Nieren gehen, egal ob die einem Check auf Wikipedia standhalten würden oder nicht.
Als Individuen meinen wir, dass wir schlüssige, autarke, vollständige Einheiten wären, wir erfahren uns als etwas Homöostatisches und Konstantes, und diese neurophysiologische Lüge ist etwas ganz Großartiges. Wir sind die Sachverwalter, Historiografen und Zensoren unserer eigenen Existenz. Wir erschaffen aus vielen fraktalen Gedankensplittern und Erinnerungsfragmenten unsere Selbstwahrnehmung … und all das on the fly. Wir sind die Baumeister des neuen Subjekts. Und da ist es natürlich besonders spannend, die Erzählungen zu hören und lesen und sehen, die die anderen über uns verbreiten. Denn das ist es, was überbleiben wird. Will ich so wahrgenommen werden? Ab wann ist der Anwalt fällig, weil die Stories der Mitmenschen über mich auf einmal so gar nicht mehr mit meiner eigenen übereinstimmen?
Und was ist mit der Selbstwahrnehmung ganzer Gruppen? Wie entstehen solche Zuschreibungen und Identifikationsschablonen wie z.B. „Bayern-München-Fan“ oder „Thrash-Skater“ oder „Lego-Mindstorm-Afficionado“? Was ist der wahre Nerd? Naja, ok, … mit dem Wahrheitsbegriff würde ich eher ein wenig aufpassen. Da schleppt man sich nur jede Menge Dreck ins Wohnzimmer.
Wenn du von der „Selbstwahrnehmung ganzer Gruppen“ sprichst, bekennst du dich ja einerseits zum Innenblick des Nerds auf die Nerds. Andererseits deutest du eine Übertragbarkeit oder Repräsentativität an. Bietest du die Geschichte deiner Nerdwerdung anderen zur Identifikation an? Ist Traceroute ein Film vor allem für Nerds? Hast du eine Vorstellung davon, wie jene Menschen deine Geschichte erleben, die sich nicht schon seit ihrer Kindheit mit Star Trek, Wargames, GURPS, Lovecraft, Aliens oder Dinos beschäftigen? Definitionsversuche überlässt du ja geschickt anderen. Für wie heterogen hältst du die „Gruppe“ der Nerds?
Heterogenität ist ja fast identitäres Moment bei Nerds. So viele Gruppen und Splittergruppen, Interessenskreise und Feindschaften. Deswegen starte ich meinen Film ja autobiografisch. Ich denke, dass sich die Nerdwerdung sehr unterschiedlich gestalten kann und die persönlichen Glücksmomente und Traumata weit auseinanderliegen können, aber ich glaube, es gibt gewisse Muster, vor allem wenn ich die Geschichten der Nerds meiner Generation betrachte. Diesen patterns versuche ich in Traceroute auf den Grund zu gehen, versuche dabei aber so wenig wie möglich Werner Herzog zu sein. Durch meine Selbsterzählung führe ich mich sozusagen als freundlicher Leitnerd ein, der dann auf seiner Autoreise durch die eigene Vergangenheit auf andere Personen trifft, um als Betroffener über Betroffene, aber auch als Fan über Fans zu reflektieren.
Es ist ein Film über Biografien und Obsessionen und Möglichkeitsräume – also irgendwas zwischen liebevoller Umarmung und beinharter Vivisektion. Eine kritische Meta-Haltung war mir genauso wichtig wie bodenloses Liebesgestammel. Und das funktioniert glaube ich nur deswegen, weil ich eben einen Schritt vortrete, mich vorstelle, fast wie bei den Anonymen Alkoholikern, mich schuldig bekenne, nur um dann die besten Schnapsbrennereien besuchen zu fahren. In meinem Fall sind es dann halt keine Branntweinhersteller, sondern Orte und Menschen und Zeichen einer ganz speziellen Popkultur.
Aus den ersten Testscreenings kann ich jedenfalls berichten, dass sowohl Kenner als auch absolute Laien ihre liebe Freude mit dem Film haben. Egal ob ich D&D kenne oder nicht, die Besessenheit, die Schmach, das Interesse, die Freude an der Verschrobenheit ist bekannt. Es gibt die schöne Anekdote, dass ein stattlicher Testscreening-Gast, der Snowboarder und Kajaker und American-Football-Fan ist, mich nach dem gemeinsamen Filmschauen ansprach und mit reuigem Tonfall sagte: „Ich hätte das nie gedacht, aber ich glaube, ich bin auch Nerd. Ich mag nämlich Korallen. Ich sammle die und kenne alle lateinischen Namen. Ich hab sogar eine in meiner Geldbörse. Hier, schau mal.“
Geht dir das zu weit: ein Korallensammler als selbsterklärter Nerd? Dann wäre ja auch der ältere Herr, der Nazi-Militaria und Landserheftchen sammelt, ein Nerd. Und eigentlich jeder mit einem leidenschaftlich verfolgten Hobby. Ist es so einfach? Oder doch eher an bestimmte Genres, Affinitäten und Schlüsselreize gebunden?
Ich glaube das Wichtigste an der Anekdote ist die Selbstbezichtigung, die Identifikation, das „ich bin auch Nerd“. Es ist der Gestus, der den Nerd zum Nerd macht. Ich beschäftige mich in meinem Film nicht sonderlich mit Etymologie und den diversen Distinktionsdebatten (Geek? Fan?), sondern vielmehr versuche ich, Positionen zu präsentieren. Nerd bezeichnet ja vorerst nichts weiter als ein gesellschaftliches Stereotyp, aber gerade da finde ich den Bedeutungswandel markant. Ich hab noch eins aufs Maul bekommen, weil ich in den Mitt-1980ern ein Nerd war. Heute regieren die Nerds die Welt. Der Nerd ist der Musterknabe (und das meine ich leider auch gendertechnisch) des kognitiven Kapitalismus. Er ist rebellischer Außenseiter, aber auch williger Mitläufer. Der Nerd und seine Obsession lässt sich nutz- und urbar machen: als produktiver Google-Angestellter, aber auch als devoter Spiderman-Sammler. Das Universum ist ein Branchenriese, und der Nerd schlichtet gerne die Regale.
Tatsächlich lassen sich im Film ja zwei Deutungsstränge erkennen: Zum einen den von dir benannten kapitalistischen. Nerds als „driving force”, „embedded in the guts of neoliberalism“. Zum anderen einen eher revolutionären. Du zeigst immer wieder auch Zusammenhänge mit linkem Denken auf. Nerds seien „creators“, nicht „consumers“ – und: „There is no creativity in the absence of rebellion.“ Ein Widerspruch? Oder eher eine historische Entwicklung?
Nein, kein Widerspruch. Ich finde, dass die Gestalt des Nerds als herrliche Analyse-Schablone für den Wandel von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft verwendet werden kann. Das Klischee des Nerds betritt erstmals die Weltbühne, als sich Mitte der 1970er Jahre die Kambrische Explosion der Informationsgesellschaft vorankündigt. Der Nerd muss als comic relief für die Zukunftsängste der westlichen Gesellschaft herhalten. Denn es geht ab: Der polizeiliche Blick in den Disziplinargesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hat das Individuum sichtbar gemacht; es wurde von der Macht beleuchtet – und in der entstehenden technologischen Kontrollgesellschaft wird es nun durchleuchtet und algorithmisiert. Schlimmer noch: Die Individuen durchleuchten sich selbst und stellen sich willig zur Schau.
Selbst der renitenteste Anarcho-Hacker hat ein Problem, wenn Kontrolle diffuser, subtiler, schwerer fassbar wird. Wenn Anonymous nicht realisiert, dass ihre mediale Rolle, die Rolle der Aufdecker und Exploiter und Rächer, nur eine kalkulierte Funktion in der Dienstbarmachung und Streamlineisierung der Informationsgegenwart ist, dann haben wir alle ein Problem. Kontrolle ist keine starre Form. Soylent Google is made of people. Und deswegen muss auch Widerstand neu gedacht werden.
Da könnte man sich natürlich fragen: Können Nerds überhaupt in größeren Gruppen, Zusammenhängen oder Strukturen funktionieren? Lässt das ihre bereits eingangs von dir erwähnte Heterogenität zu? Wenn im Film von Sub- oder Parakulturen die Rede ist, von einem „independent life“ oder davon, „against the grain“ zu leben, denke ich darüber nach, ob es letztlich konstituierend für eine Selbst- oder Fremdwahrnehmung als Nerd ist, das Außenseiterklischee gelebt (oder zumindest gestreift) zu haben, unverstanden gewesen zu sein. Einer deiner Protagonisten nennt sogar Isolation als Bedingung. Du bezeichnest Österreich zu Beginn des Films ironisch als „culturally challenged country“. Ich selbst bin auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen. Und habe mich schon oft gefragt, ob eine bestimmte Art von widerständig kreativem Denken nicht gerade in einem defizitären Umfeld besonders gedeiht. Wärst du im „bright center of the universe“, von dem du dich in deiner Kindheit so weit entfernt fühltest, zu dem geworden, worauf du heute stolz bist? Was hat Nerdwerdung nicht zuletzt auch mit der Notwendigkeit von Improvisation zu tun?
Absolut. Ich stimme zu 100 Prozent zu. Wenn ich nicht in Stockerau in der niederösterreichischen Pampa aufgewachsen wäre, dann wäre ich nicht, was ich jetzt bin. Die Keimzelle des Nerdtums ist die Differenz. Das Verlangen nach Verständnis, nach der Möglichkeit, Erfahrungen zu teilen, nicht alleine gelassen zu werden mit den bizarren Interessen, aber gleichzeitig auch eine fast perverse Freude, sich in diesem Defizit zu suhlen. Nerds lieben den Mangel: den der anderen, aber auch den eigenen. Nerds sind begierige Forscher, die sich gerne aneinander messen und dann auch aggressiv wetteifern, dennoch hat Nerd-Sein auch etwas Okkultes und Geheimes. Wie diese Macht dann ausgedrückt oder fokussiert wird, ist sehr wichtig. Es gibt so wunderbare Manifestationen wie die DIY-Creature-Effects-Szene, aber auch so horrible wie #gamergate. Ethik ist, obwohl ich da versuche, nicht den Zeigefinger zu erheben, eine essentielle Grundfrage von Traceroute.
Du bebilderst deine ethischen Überlegungen unter anderem mit dem folkloristischen Schrein für Wernher von Braun im US Space & Rocket Center in Huntsville. Und mit der Reise zum Grab H. P. Lovecrafts in Providence. Also einmal mit dem Ausblenden jedes kritischen Kontextes. Des Feierns eines Genies durch die USA, ohne dessen menschenverachtende Rolle im Nationalsozialismus auch nur zu bedenken. Und einmal mit deinem eigenen Hinterfragen eines Idols. Du sagst, dich mit Lovecrafts Rassismus auseinanderzusetzen, sei für dich ein sehr wichtiger Entwicklungsschritt gewesen. Wo liegen für dich die ethischen Grenzen des Nerdtums genau? Welche Ansprüche stellst du an andere Nerds?
Um mit einem Nerdklassiker zu antworten: „Be excellent to each other.“ (aus Bill & Ted’s Excellent Adventure) Die Problematik ist, dass der Blick hinaus aus der Bubble, die sich der Nerd um sich selbst gebaut hat, gefürchtet und vermieden wird. Es ist also eine gepflegte und auch privilegierte Ignoranz. Und auch ein gepflegtes Besserwissertum. Da hat Ethik oftmals keinen Platz. Oder sie wird verdreht, wie es etwa in der Skeptikerbewegung rund um Richard Dawkins immer wieder passiert ist. Da werden die furchtbarsten Sexismen, die in der Community zu Tage treten, auf einmal unter den Tisch gekehrt und mit Verschwörungsbullshit gerechtfertigt, nur um die „Bewegung“ und den „Fortschritt der Menschheit“ nicht zu gefährden. Really? Oder, wie du richtig ansprichst, die politische Kurzsichtigkeit und fahrlässige Geschichtslosigkeit der Space-Fans.
Traceroute ist 120 Minuten lang, aber dennoch viel zu kurz, um all diese interessanten Diskursnischen zu durchforsten. Dennoch freue ich mich, dass ich in meinem Road-Trip-Essay einige der wichtigsten Positionen ansprechen kann. Vielleicht löst das ja weitergehende Debatten aus.
Manchmal habe ich das Gefühl, bei Nerds geht es vor allem um Kontexte. Im Film wird der Gedanke geäußert, man sei eben auf der Suche nach „something out there you can connect with“, also nach Bezügen, in denen man seine Leidenschaft ausleben kann. Eine Protagonistin findet eine solche Basis in „the soothing fact that there is always an answer in science“. Du selbst sprichst von der Kunst als einem Bezugspunkt. Du hättest Dich von „some nerd” verwandelt „into some artist”. Dass sich die Faszination von Nerdwissen oft aus Kontextwissen speist, aus der Konstruktion von Zusammenhängen, fiel mir im Film auf, als Du die unauffällige Öffnung eines Verkehrstunnels als Drehort von gleich drei berühmten Filmszenen präsentiertest. Auch Traceroute arbeitet ja mit einem irren Tempo, mit Überlagerungen und Einblendungen. Es ist kaum möglich, so schnell alles zu dechiffrieren, alle Codes, Hints und Lesbarkeitsebenen überhaupt zu entdecken. Ist diese Art von komplexem Overflow ein Nerdformat? Oder deine Art, künstlerisch zu arbeiten? Oder beides?
Beides. Kontext ist in der Nerd-Welt definitiv King, wie du richtig analysierst, und Wissensverknüpfung und -zelebrierung ist wesentlicher Bestandteil einer Nerdexistenz. Schnittgeschwindigkeit und Referenzfülle in Traceroute sind da zugleich Hommage und gelebtes Nerdtum. Aber, um auf mein Künstlerdasein, auch als Filmemacher, einzugehen: Kontext ist seit jeher ein zentraler, wenngleich lange Zeit unscheinbar und bisweilen unsichtbar gebliebener Bestandteil künstlerischer Werke. Dass ihn die kontextbezogenen Verfahren der Moderne erst mühsam wieder ins Blickfeld heben mussten, hat auch damit zu tun, dass bürgerliche Kunstbetrachtung dazu neigt, die soziale und historische Einbettung eines Artefakts oder einer ästhetischen Herangehensweise auszublenden. Stattdessen rückt sie das schöpferische Subjekt in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit: Nicht äußere Rahmenbedingungen und Produktionsumstände sind in dieser Perspektive entscheidend für das Entstehen von Kunst, sondern die innere Verfasstheit und Disposition der Kunstschaffenden, also jene besonders empfindsame und eigenweltliche Subjektivität, die sie von den Alltagsmenschen unterscheiden soll.
Seit der Moderne haben die Künstler daher immer wieder versucht, die Engführung von Werk und Subjekt aufzubrechen, weil sie sich dadurch in eine Rolle gedrängt sahen: in jene Freiheit und Unabhängigkeit, deren Kehrseite Vereinzelung und Ohnmacht sind. Während die Arbeiter der fordistischen Fabrik kollektive Kampfformen entwickelten, erschwerte die besondere Form des Künstlerdaseins – als produktive Eigenbrötlerei und manisch-depressiver Individualismus (erinnert das nicht an den Nerd?) – es, sich zu organisieren und Forderungen durchzusetzen, um prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Aus dem Gefängnis ihrer Freiheit konnten sich die zur Autonomie Verdonnerten nur schwer befreien.
Traceroute wagt hier gewiss eine Gratwanderung. Es ist ein Spiel mit dem gequälten Nerd und dem leidenden Künstlersubjekt. Und damit, was passiert, wenn man sie gemeinsam auf Urlaub schickt. Alles in allem vielleicht sogar ein kleiner Context Hack …
A propos Urlaub: Traceroute lebt ja vom europäischen Blick auf die USA und ihre Kulturen. Für einen Nerd mit österreichischem oder auch deutschem Lebenslauf scheint das sehr nachvollziehbar. Ein wesentlicher Teil der möglichen Referenzen, Schlagworte, Genres, Tropes und Meilensteine wurzelt jenseits des Atlantik. Du thematisierst Kapitalismuskritik anhand von Romeros Zombies. Und Fantasy ist für Dich eben nicht Tolkien, sondern Steve Jackson Games mit GURPS. Ein einziges Mal prostet Ihr dem toten Terry Pratchett zu. Aber das war’s dann auch mit Good Old Europe. Wäre ein solcher Road Movie in einer anderen Kultur möglich gewesen? Gäbe es überhaupt Nerd Culture ohne die USA? Und wie sehr ist das alles historisch bedingt, gebunden an Motive aus den 1970ern und 1980ern: der „lonesome hacker“ in Wargames, der „TV snow“ in Poltergeist, das Vietnam-Trauma in Jacob’s Ladder? Gibt es eine Referenzbibel für Nachwuchsnerds, oder entwickeln die ihre eigenen Schwerpunkte, von denen wir Dinosaurier keine Ahnung haben?
Ach, Tolkien, dieser jämmerliche Katholik, der sogar Kühlschränke gehasst hat. Ein technophober Akademiker, der wahrscheinlich Irland gefickt hätte, wenn Irland fickbar wäre. Dann schon lieber Fantasy durch GURPS-Regelbücher oder Hensons Der dunkle Kristall kennenlernen. Natürlich war meine Pop-Sozialisation hauptsächlich eine amerikanische. Im deutschsprachigen Raum hat Science-Fiction-Literatur ja bis heute die Aura des Schundromans, und auch die Technikaffinität war nie eine deutsche Tugend. Effizienz und Qualität schon, aber nicht Innovation. Punkt A) waren die großen wissenschaftlichen PR-Erfolge der späten 1960er und 1970er Jahre allesamt made in USA, und deswegen war mein Blick da auch immer nach Westen gerichtet. Und Punkt B) komme ich aus einem bürgerlichen Umfeld, und das war in den 1980ern pro-amerikanisch. Und C): Die relevanten Kulturprodukte kamen einfach von dort. Punkt.
Aufgewachsen bin ich also in den letzten Ausläufern der Zukunftseuphorie, im Grenzgebiet zu No Future. Aber auch im Bereich der gepflegten kritischen Dystopie waren die USA Vorreiter. Filme wie Robocop waren einfach unglaublich wichtige Artefakte für mich, weil es eine spannende Möglichkeit war, Gesellschaftskritik aufzunehmen. Als ich 13 Jahre alt, war ich ein begeisterter Leser von Cyberpunk – und auch schon sehr interessiert an abstrusen Undergroundgeschichten, hauptsächlich weil ich schon früh ein Modem hatte und Teil der BBS-Szene wurde. Mit 16 oder 17 bin ich schließlich vom Cyberpunk zum Punk geworden. Man könnte also sagen, dass meine Geschichte in der Gegenkultur mit der inneramerikanischen Dissidenz begonnen hat, von Re/Search und Mondo 2000 bis Survival Research Labs.
Ich war (und bin) begeisterbar und immer an neuen Ideen interessiert, aber auch ein klassischer Aber-Sager. Nehmen wir einfach mal die Robotik, die immer schon ein Steckenpferd von mir war. Die AI-Forscher befinden sich seit Jahrzehnten in einer unschön anzusehenden Spastik. Die Moderne hatte ihre fette Siegesbeute in Mondgestein angelegt und vorerst schien alles möglich. Das erste künstliche Gehirn wurde für die Jahrtausendwende prognostiziert, de facto vertraue ich im Jahre 2016 aber nicht mal meinem Toaster. Insofern bin ich tatsächlich ein Dinosaurier, weil ich mir ein wenig Würde und ein wenig Ehrfurcht bewahrt habe. Ich war zwar immer progressiv, habe aber den Sprung in die Hölle neoliberaler Silicon-Valley-Verehrung nicht mitgemacht. Die aktuelle Nerdszene ist sehr durchsetzt vom Marktfetischismus. Es braucht also gar keine Referenzbibel, sondern nur ein Zitat von Foucault: „Es ist nicht wichtig, WAS man wissen will, sondern WARUM man es wissen will.“
Wie sieht denn die transatlantische Gegenperspektive aus? Interessieren sich US-Nerds für das fremde Europa? Ist Traceroute für US-Amerikaner nur eine exotische Geschichte über einen „crazy Austrian“? Oder erzählst Du für ein internationales Publikum, das Deine Inhalte überall ähnlich rezipiert?
Nerdkultur ist in den letzten Jahrzehnten wesentlich internationaler und polyvalenter geworden, und natürlich ist das vor allem dem Internet zu verdanken. Es ist wesentlich leichter geworden, an Information heranzukommen, und auch soziale Defizite sind online leichter zu managen. Meine Wurzeln liegen zwar in Österreich, aber eigentlich ist die Geschichte, die ich erzähle, eine universelle. Mein Trip durch meine persönliche vierzigjährige Nerd-Geschichte, aber auch die kollektive, könnte genauso andersrum funktionieren. Jerry-Lee Zakrzewski aus Des Moines, Iowa fährt durch Frankreich, auf den Spuren von Moebius, Alphaville, Airbus und René Antoine Ferchault de Réaumur. Why not?
In Traceroute finden sich etliche Bezüge zwischen Nerdkultur und Sex bzw. Porno. Ist das eher ein persönlicher Schwerpunkt? Oder hat die thematisierte sex positivity eine kollektive Grundlage unter Nerds? Wird sie begünstigt durch eine gewisse Offenheit? Den Mut, anders zu sein? Die Fähigkeit, sich mit Leidenschaft auf Dinge einzulassen? Oder ist Sex gar, wie eine der Protagonistinnen ausführt, „a driving force for technology“?
Wir leben in einem Patriachat, und das ist natürlich im Nerd-Bereich nicht anders, manchmal sogar richtig schlimm. Schwieriges Thema. Mir war es aber neben der berechtigten Kritik auch einen anderen Blick wert. Das klassische Bild vom Nerd, der keine Freundin hat, lässt sich natürlich bis zum Erbrechen durchspielen, aber ich wollte das Panorama erweitern.
Von den tausende Jahre alten Höhlenzeichnungen einer Vulva bis zum neuesten Porno-Live-Online-Game, Technologie und Sexualität waren schon immer eng miteinander verbunden. Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft bringen wird, aber der bisherige Lauf der Geschichte legt nahe, dass Sex auch in Zukunft eine essentielle Rolle in der technologischen Entwicklung spielen wird – und dass Technologien und deren Anwendung die menschliche Sexualität gestalten. Die Frage ist also nicht ob, sondern wie diese Interaktion die Menschheit weiter verändern wird. Teledildonik und Sex Machines, Bio-Hacking und Screw-It-Yourself, Körper mit erweiterten sexuellen Möglichkeiten, erotisch-genetische Utopien und die Vielfalt der Sichtweisen auf Gender und Geschlecht sind schon lange im Fokus der Literatur, der Science Fiction, der Pornographie. Deswegen sind, ohne viel spoilern zu wollen, meine Interviews mit Maggie Mayhem und Kit Stubbs auch ganz essentieller Teil der Doku.
Dein in den USA ein wenig etabliertere Kollege Michael Moore sprach neulich in einem Interview von einem fiktiven österreichischen Filmemacher, der über das Silicon Valley und das iPhone berichtet, nicht aber über Massenschießereien. Man könne ja nicht alles thematisieren, wenn man ein fremdes Land besucht. Er habe deshalb in seinem neuen Film über Europa auch das herausgegriffen, was besser laufe als in den USA. Ist das Beispiel Zufall? Oder fühlst du dich gemeint? Auf facebook hast du zumindest kommentiert, du fühlest dich herausgefordert. Wozu? Doch noch die sehr hässlichen Seiten der USA zu zeigen?
Ja, ich habe das Moore-Interview von Eddie Codel, unserem Director of Photography bei Traceroute, geschickt bekommen. Und natürlich ist das ein großer Zufall – aber ein spannender. Ich hab die challenge accepted und auch schon längst erfüllt, und habe das Moore auch per Tweet wissen lassen. Es geht nicht darum, die Hässlichkeit der USA zu zeigen, sondern ein gesellschaftliches Pastiche zu präsentieren. Ich kann sehr wohl als Fanboy über ein kommerzielles Produkt lobhudeln UND inneramerikanische Probleme reflektieren. Das macht es ja gerade spannend. N’est-ce pas?
Wen wünschst du dir eigentlich als Publikum für Traceroute? Und wo und wann können diese Menschen den Film dann erstmals sehen?
Ich freue mich eigentlich über jedes Publikum, egal aus welcher Ecke. Die sollen sich ruhig an Popcorn überfressen und sich hoffentlich nicht langweilen. Wir haben den Film bei etlichen Festivals eingereicht, und da gibt es (as of January 12, 2016) noch keine Antworten – das heißt, auch noch keinen definitiven Premierentermin. Der Filmfestivalzirkus ist mir ja als digital native ein bisschen suspekt. Das riecht alles ein wenig nach Verknappungsmarkt, aber ich spiele da einfach mal mit. Macht irgendwie Spaß und fühlt sich an wie eine neue Rolle. Vielleicht sollte ich mir schon einen schönen Nazi-Sager für eine Pressekonferenz ausdenken, wie der olle von Trier. Ganz pragmatisch: Ich vermute, dass Traceroute in ein Indie-Kino in deiner Nähe kommen wird. (Aktuelle Festival- und Kinotermine gibt es hier.) Und falls nicht, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit wann er dann auf PirateBay auftauchen wird. Cheers!
Bildquellen
- Traceroute-Poster-web: Filmplakat Traceroute / monochrom Propulsion Systems
- 12540016_10205594175353579_399276438_n: Filmstill Traceroute / monochrom Propulsion Systems
- 12540157_10205594175313578_1933407694_n: Filmstill / monochrom Propulsion Systems
- traceroute: Filmplakat Traceroute / monochrom Propulsion Systems
4 thoughts on "Johannes Grenzfurthner über Traceroute: Unterwegs mit dem Leitnerd"
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