The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: Die Ständigkeit des Selbst im Sinn des Standgewonnenhabens – Nichts im Fernsehen

In Mathias Mertens historischer Fernsehkolumne The Sun always shines on TV geht es heute um das Fernsehen. Nur kommt gerade nix. #20 (4. März 2001)

Diese Woche gab es wieder einmal nichts im Fernsehen. Überhaupt nichts. Aber daß man nun endlich begonnen hätte, mit dem Joggen anzufangen, den Schreibtisch aufzuräumen, sich mit seiner Frau zu unterhalten, den Kindern bei den Schularbeiten zu helfen, das gute Buch zu lesen, sich mit der Benutzung des Internets vertraut zu machen, nein, man blieb einfach sitzen. Träge griff man nach der heute-Sendung zur Programmzeitschrift, um sich von einem dort angekündigten Highlight affizieren zu lassen, doch auch hier nichts. Nur die übliche Soße von Wirtschaftsmagazinen, Quizshows, Tierfilmen, uninteressanten Fernsehfilmen oder Krimiserien. Also hieß es, den Arsch zusammenzukneifen und durchzuhalten. Vom Wetterbericht auf dem ZDF bis zum Beginn der Tagesschau zappte man sich einfach so durch, bis zum heute journal mußte man 90 Minuten mit einer Regionaldokumentation über den Hamburger Hafen, den Frankfurter Messeturm oder den Münchner Viktualienmarkt überbrücken, das heute journal ließ einem 15 Minuten, um hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten, bis die Tagesthemen den Abend um 23 Uhr abschlossen und man endlich ins Bett gehen konnte. Wenn man am Ende einer solchen Woche seine Lebenszeit Revue passieren läßt, dann ist da tatsächlich nichts, keine Erinnerung an irgend etwas. Man weiß ja schon beim Wetterbericht nicht mehr, was die ersten drei Nachrichten waren, wie soll man dann noch nach sieben Tagen wissen, wie man seine Abende verbracht hat.

Vielleicht ist diese Leere im Hirn physiologisch begründet. Das legt zumindest eine Studie der Case Western Reserve University nahe, die gerade veröffentlicht worden ist. Der Neurologe Robert Friedland hat 193 Alzheimer-Patienten und 385 ihrer gesunden Freunde untersucht. Ergebnis: Diejenigen, die ein Instrument spielen, die im Garten arbeiten oder Kreuzworträtsel lösen, haben kein Alzheimer, diejenigen, die hauptsächlich fernsehen, haben es. Fazit: Fernsehen zerstört das Gehirn, so daß man sich an nichts mehr erinnern kann. Das würde die Leere bezüglich der letzten Woche erklären. Man muß allerdings einwenden dürfen, wie man denn von den 193 Alzheimer-Patienten verlangen könnte, daß sie einen Roman lesen. Da bleibt eben nur Fernsehen. Und außerdem wird jeder ernsthafte Empirische Sozialwissenschaftler sich angesichts einer Versuchspersonenzahl von 193 mitleidig lächelnd abwenden und sich ernsthafterer Forschung zuwenden. Interessant ist allerdings die Begründung von Friedland. Demnach würde man sich beim Fernsehen in einem „halbbewußten Zustand“ befinden, in dem man nichts lernen kann. Das Gehirn würde sich gewissermaßen neutral verhalten, es hätte also ein interesseloses Wohlgefallen an der Welt, alles wäre nur schön und müßte nicht mehr verarbeitet werden. Alzheimer muß also das Resultat erfüllter Wünsche sein. Wenn ich nichts mehr will, weil ich alles habe, dann gibt es auch nichts mehr, an dem ich festhalten muß.

Warum ist dem so? Darüber gibt eine neurologische Studie natürlich wieder keine Auskunft. Empirische Wissenschaften können immer nur nachweisen, sie belegen, daß das, was ist, auch tatsächlich ist. Für das Warum sind dann die Geisteswissenschaftler verantwortlich, die sich hinsetzen und ins Blaue hinein fabulieren können. Eine dieser Fabeln könnte dann so lauten: Das Fernsehen ist ein Medium des permanenten Flusses, der ewigen Wiederkehr. Und wie uns Galilei und später auch Einstein erklärt haben, läßt sich Bewegung nicht wahrnehmen, nur Beschleunigung. Eine gleichmäßig Bewegung läßt sich nur in Relation zu anderen Punkten erschließen, ohne diese Punkte ist es unentscheidbar, ob man sich bewegt oder stillsteht. Der Fluß des Fernsehens ist also nur wahrnehmbar, wenn man das Vorübergleiten bestimmter Fixpunkte ausmachen kann. Deshalb klammert man sich an die Nachrichtensendungen, die immer zur selben Zeit kommen, denn an diesen läßt sich das Verstreichen der Fernsehzeit festmachen. Über einen längeren Zeitraum gesehen, sagen wir eine Woche, wird die Regelmäßigkeit dieser Sendungen allerdings wieder zu einem Kontinuum. Weil heute jeden Tag um 19 Uhr kommt ist die unendliche Kette von heute-Sendungen genauso groß wie die unendliche Kette des Fernsehprogramms insgesamt, sie können nicht mehr in Relation gesetzt werden und damit ergibt sich keine Bewegung.

Um sich als fließend wahrgenommen zu haben, benötigt man also bestimmte einmalige Sachverhalte, Ereignisse. Wie wir allerdings bereits gesehen haben, sind Fernsehereignisse keine solchen. Entweder sie ereignen sich tatsächlich, dann ist das Fernsehen darauf nicht vorbereitet und man kann sie nicht sehen, oder sie sind vor- und aufbereitet, dann kann man sie sehen, sie sind allerdings keine Ereignisse mehr sondern Fernsehsendungen wie alle anderen. Auch Sportübertragungen, die ja eigentlich singuläre Ereignisse sind, denn sie finden nur ein einziges Mal in dieser Form statt, werden durch die bisweilen wochenlange Vor- und Nachbereitung tatsächlich so stark singularisiert, d. h. auf einen Punkt konzentriert, daß er keine Differenz mehr darstellt, keine Größe, an der man sich orientieren kann. Daß ein Fußballspiel gerade stattfindet, ist nicht im Bewußtsein. Showsendungen kommen inzwischen entweder so regelmäßig, daß sie eine unendliche Kette ergeben, oder sie werden durch wochenlanges Vorankündigen genauso singularisiert wie Sportereignisse. Das Nichts nichtet also nicht im Programm, dort ist immer etwas, und genau das macht das Programm zu Nichts in der Wahrnehmung, weil es sich nicht mehr in Differenz zu Nichts zu Etwas machen kann.

Die einzige Ausnahme scheinen Spielfilme zu sein. Läßt man die Gleichförmigkeit von Hollywoodproduktionen außer Acht, die schon wieder für einen unendlichen Fluß sorgt, so sind Filme tatsächlich individuelle Ereignisse, die aus dem Programm herausragen. Sie sind es auch, die man an einem solchen Abend, wenn einen die Fernsehlangeweile packt, in der Programmzeitschrift sucht. Deshalb sind Programmzeitschriften auch hauptsächlich auf Spielfilme ausgerichtet. Ob nun TV Spielfilm, TV Movie oder TV direkt, sie listen alle die Spielfilme auf, geben Inhaltsangaben und Bewertungen. Das übrige Programm findet sich nur in sehr ausgewählten Auszügen hervorgehoben, ansonsten versinkt es in der graphischen Repräsentation des Programmflusses in den Senderspalten. Ein Spielfilmhighlight macht aus einem Fernsehabend einen erlebten Zeitabschnitt. Von einem Spielfilm hat man auch noch lange Zeit später einen Eindruck, wer vor drei Monaten zu Gast bei Wetten dass oder was gestern der Aufmacher der Tagesthemen war, das ist der televisiven Alzheimer zum Opfer gefallen.

Und wieder die Frage: Warum? Und wieder die geisteswissenschaftliche Fabulierkunst: Weil wir es hier mit einem Medienwechsel zu tun haben, beziehungsweise der Simulation eines anderen Mediums mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Während das Fernsehen ein Fluß ist, stellt der Film einen Raum dar, den man betreten und wieder verlassen kann, dazwischen hält man sich ein wenig in ihm auf und guckt sich um. Bei diesem Raum ist Bewegung als Wahrnehmungskriterium völlig unerheblich. Er ist unbewegt. Ein Raum hat Ausmaße, das heißt, er ist begrenzt, und diese Begrenzung macht aus ihm einen wahrnehmbaren Gegenstand. Die Differenz besteht aus der eigenen Zustandsveränderung. Es gibt ein Außen und ein Innen beim Film, man selbst tritt aus der eigenen Lebenswelt heraus und in den Raum des Films, um dann wieder zurückzukehren. Eine solche Binarität gibt es beim Fernsehen nicht, es ist genauso Fluß wie das eigene Leben Fluß ist, man bewegt sich immer, ob man nun fernsieht oder nicht. Film ist statisch, er ist unveränderlich. Wird er doch verändert, etwa, indem man eine umgeschnittene Fassung in die Kinos bringt, dann ist es ein anderer Film, ein anderer Raum, den man betreten und wieder verlassen kann.

Sozialwissenschaftliche Bestätigung des Seins hat immer ihr Ende, nämlich dann, wenn der Datensatz nichts mehr hergibt. Geisteswissenschaften können prinzipiell immer weiter nach dem Warum fragen. Jede Antwort läßt sich in ihre Bestandteile zerlegen und jeder dieser Bestandteile kann wieder hinterfragt werden. Wie sieht’s denn mit den anderen Medien aus? Das Internet? Ein Kristall, der keine lineare Entwicklung, also vertikales Wachstum hat, sondern in die Horizontale wuchert, in sich bröckelt und in die Bruchstellen wieder hineinwächst. Nicht beobachtbar. Die Photographie? Ein Gedanke, festgehalten in dem Moment, an dem noch keine Festlegungen getroffen sind. Einem Photo kann man die Möglichkeiten ablesen, zu welchen weiteren Gedanken dieser eine Gedanke führen könnte, es bleibt jedoch eine Hypothese. Das Buch? Ein Steinbruch am eigenen Körper, die Lektüre ein stetiges Zersetzen der eigenen Integrität. Das atomisierte Selbst wird dann in einer Flüssigkeit aufgelöst, um sich vollständig mit etwas anderem zu verbinden. Es gibt kein Gegenüber, sondern Lesen ist ein Morphing. Dieser Text muß deshalb sofort aufhören, bevor er Ihrer Gesundheit schadet. Schalten sie lieber den Fernseher ein, um alles zu vergessen.

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  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens