Vorurteile: Wenn der Hund im Garten patrouilliert
Zusammenleben auf engstem Raum – Ängste und Vorurteile inklusive. Manchmal hilft die Vogelperspektive. Eine Parabel über zwei Tauben, Einheimische und „Asselanten“.
„Einen besseren Platz findest du im gesamten Haus nicht!“, meint das flauschige Taubenküken zu seinem gerade eben geschlüpften Geschwisterküken. „Doch pass auf! Die sind hier etwas seltsam! Das merkst du schnell!“
Mit beiden Aussagen hat das Küken recht. Das Nest liegt in etwa 2,20 Meter Höhe in einer Koniferenhecke im Innenhof. Keine Katze verirrt sich hier hin. Aber jeder Hausbewohner muss hier irgendwann vorbei. Die aus dem Hinterhaus, wie die aus dem Seitenflügel. Und selbst die Bewohner aus dem Vorderhaus kommen auf dem Weg zu den Mülltonnen an dem Nest vorbei. Die Küken sehen in kürzester Zeit mehr, als ihre menschlichen Mitbewohner an dieser Adresse.
Der Tod des alten Herrn entgeht den Küken ebensowenig, wie die trauernde Witwe, die nun nur noch in Schwarz gekleidet das Haus verlässt. Sie sehen den Journalisten aus dem Hinterhaus zu den unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten auf seinem Weg durch den Innenhof. Ihnen entgeht nicht, dass die junge Frau, die hinter den immer geschlossenen Rollläden lebt, irgendwann ihre Terasse mit Blumen verschönert hat. Sie sieht die Blumen nicht, denn in ihre Wohnung fällt nur sehr selten Tageslicht. Die beiden Taubenküken wissen wohl als Einzige, wer aus einer der höher gelegenen Wohnungen mit Brotscheiben und Eiern wirft und manchmal auch benutzte Hygieneartikel in den Innenhof entsorgt.
„Sehr, sehr seltsame Leute.“ Sie hören den Tätoowierer und seine Kundschaft im Vorderhaus und das Geplapper aus dem Kohleladen, in dem bei Bier und Korn eine ganz eigene Klientel sitzt. Sie kennen auch die Junkie-WG aus der obersten Etage, die letztens erst einen ihrer Mitbewohner vor die Haustür legte, bis der Krankenwagen den zugedröhnten, bleichen Menschen mitnahm, der danach nie wieder gesehen wurde. Die nette junge Ärztin, die hinkende Dame mit der Skoliose, die Kurzzeitmieter aus der Dachwohnung. „Wirklich Angst macht mir aber nur die Frau mit dem Hund“, sagt das Taubenküken.
Die Frau mit dem Hund – ja. Sie wohnt im Vorderhaus. Erst kürzlich meinte sie im Hof direkt unter dem Nest zu dem Mann, der die Erdgeschosswohnung im Hinterhaus bewohnt: „Ick wollt nur Bescheid sagen, dass ick nu öfter mal den Hund im Jarten loofen lassen werde. Wegen der Asselanten! Damit die gleich mal wissen, dass se hier nich übern Zaun kommen solln!“ Der Mann schaute sie verständnislos an und ging wortlos. Mit Asselanten meinte die Frau mit dem schlecht erzogenen Kampfhund die zahlreichen Familien, die im Jugendgästehaus und dem angrenzenden Hostel untergekommen sind. Da die Sammelunterkünfte aus allen Nähten platzen, ist jedes freie Zimmer mit Geflüchteten belegt. Familien, aber auch Jugendliche (im Amtsdeutsch auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge genannt) sind seit mehreren Monaten dort untergebracht.
Schon bald sind die beiden Taubenküken flügge und machen die ersten gemeinsamen Flüge aus dem Innenhof heraus in den Garten hinter dem Haus. Von dort aus sehen sie dem Treiben auf dem Nachbargrundstück zu. Die geflücheten Menschen gehen ein und aus. Viele telefonieren. Viele sehen hoffnungsvoll aus. Andere eher müde. Im Hof, der an den Garten grenzt, spielen jetzt Kinder mit einem Ball, toben und sind fröhlich. Zwei Mieter aus den Hinterhauswohnungen unterhalten sich über die neuen Nachbarn. Sie sind sich einig: Jede Besuchergruppe der letzten Jahre, die sich zu Fußballzeiten im Hostel eingemietet hatte, war lauter und unangenehmer, als die geflüchteten Menschen, die nun Dauergäste sind. Besoffenes Gejohle bis in die frühen Morgenstunden gab es seit Monaten nicht.
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