Früher war mehr Lametta!?

Unsere Gegenwart mag zwar nicht perfekt sein, aber man stelle sich vor, wir würden im finsteren Mittelalter leben. Ein Epochenvergleich.

Jean-Paul Sartre wusste: „Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist unsere Zeit.“ Doch was ist nur los mit unserer Zeit, fragt man sich in Anbetracht all des Irrsinns, der gegenwärtig um uns herum grassiert. Die EU steht vor einer Zerreißprobe, islamistischer Terrorismus stellt eine globale Bedrohung dar, Rechtspopulisten gefährden allerorts die Demokratie. Die Welt scheint aus den Fugen.
Allein Ende Juli ereigneten sich fünf erschütternde Ereignisse innerhalb einer knappen Woche: Nizza, der Putsch in der Türkei, Würzburg, München, Ansbach. Die ARD kommt mit ihren Brennpunkten kaum noch hinterher. Da fällt schon mal unter den Tisch, dass in der Woche vor Nizza über 290 Menschen bei einem Bombenanschlag in Bagdad starben. Oder dass es einen Tag nach München 80 Tote und über 230 Verletzte bei einem Doppelanschlag in Kabul gab. Man muss sich entscheiden können, in welchen Nationalfarben man das Brandenburger und das eigene Facebookprofil erstrahlen lässt.
Der zivilisationsgestresste Mitteleuropäer ist überfordert. Er hat Angst. Angst schürt Populismus, Populismus schürt Angst. All die Trumps, LePens und Petrys versprechen einfache Antworten für einfache Menschen wider die komplexe Welt. Die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Demokratieverfall, Terrorismus, Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen usw. erzeugen lediglich verwirrende Grautöne. Anstatt sich diesen anzunehmen, schwellt die Sehnsucht nach einer einfacheren Welt in schwarz und weiß. Man beschwört die Rückkehr in eine simplere Zeit, als der heterosexuelle weiße Mann noch das Maß aller Dinge war, die Frau sich fügte, die Schwulen sich versteckten und die Ausländer im Ausland blieben.
Früher war eben alles besser. Aber stimmt das? War es zu einer Zeit ohne Überbevölkerung, Massenmedien und Hyperkonsum wirklich besser als heute? Nehmen wir zum Beispiel das finstere Mittelalter. Eine grausame Epoche, in der man im Vergleich zu heute wohl kaum hätte leben wollen.

Denn im Mittelalter wurde Europa von der Pest heimgesucht. Etwa 25 Millionen Menschen fielen dem Schwarzen Tod zum Opfer, was ungefähr einem Drittel der damaligen europäischen Gesamtbevölkerung entsprach.
Heute legen wir großen Wert auf Hygiene und verfügen über ein fortschrittliches Gesundheitswesen, sodass derartige Seuchen undenkbar geworden sind. Abgesehen vielleicht von Zika. Oder Ebola. Oder SARS. Oder MKS. Aber dabei handelte es sich vielmehr um kleine, lokale Epidemien, die nicht zu vergleichen waren mit einer verheerenden Pandemie wie der Pest.
Ebenso hinkt der Vergleich zwischen der Pest und AIDS. Zwar mag AIDS mittlerweile mehr als 39 Millionen Menschen dahingerafft haben und in Afrika nach wie vor ein kaum zu kontrollierendes Problem darstellen. Aber AIDS mit der Pest zu vergleichen ist ganz und gar abwegig. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter wurden Hexen verbrannt. Als Frau reichte es aus, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen oder einfach nur rote Haare zu haben, und schon landete man auf dem Scheiterhaufen.
Heute gehen wir nicht mehr derart rüde mit unseren Frauen um. Heutzutage sind Frauen in allen Belangen absolut gleichberechtigt und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Wirklich. Da bin ich mir vollkommen sicher. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter waren die Menschen abergläubisch. Die Wissenschaft verfügte noch nicht über den hohen Stellenwert und den Wissensstand unserer Tage, um uns die Welt und wie sie funktioniert rational zu erklären. Die Wissenschaft wurde massiv von der Kirche unterdrückt. Die Menschen konnten sich keine objektive Meinung bilden und mussten glauben, was die Autoritäten ihnen vorgaben.
Wenn uns die Wissenschaft heutzutage auf so etwas wie den Klimawandel aufmerksam macht, würde niemand an solchen Erkenntnissen zweifeln. Ebenso wissen wir die Presse als vierte Staatsgewalt zu schätzen. Niemand käme auf die Idee, die Presse ernsthaft unter Generalverdacht zu stellen und der Lüge zu bezichtigen.
Sollten dennoch leise Zweifel an der Objektivität der Berichterstattung aufkommen oder ganz allgemein unterschiedliche Ansichten zu einem Thema vorherrschen, so sind wir als aufgeklärte Zeitgenossen in der Lage, sachlich und argumentativ miteinander darüber zu sprechen, um Unstimmigkeiten auszuräumen. Heutzutage läuft kein lautstarker Mob mit Mistgabeln und Fackeln durch die Straßen und schreit danach, irgendjemanden aufzuknüpfen. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter war der religiöse Glaube Auslöser für Kriege. Das christliche Abendland sah sich bedroht durch das muslimische Morgenland, das muslimische Morgenland sah sich bedroht durch das christliche Abendland. Sogar der Papst höchstpersönlich rief zum Heiligen Krieg auf und schickte Armeen aus Rittern in den Nahen Osten.
Im 21. Jahrhundert würde sich kein westlicher Machthaber auf Gott berufen und in ein Land im Nahen Osten – beispielsweise in den Irak – einmarschieren. Gleichermaßen kennen wir blutrünstige, bärtige, Turban tragende Dschihadisten, die buchstäblich mit den Säbeln rasseln, Ungläubige enthaupten und ein islamisches Gottesreich errichten wollen, nur noch aus den alten Ammenmärchen über die Kreuzzüge. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter wurden Menschen öffentlich angeprangert. Auf dem Marktplatz wurden sie an den Pranger gestellt, wo wildfremde Passanten sie mit faulem Obst, vielleicht sogar mit Fäkalien bewarfen.
Heutzutage haben wir derart unzivilisierte Umgangsformen abgelegt. Höchstens technikskeptische Zyniker würden behaupten, dass Social Media der Pranger unserer digitalen Gesellschaft geworden ist. Dass Dünnhäutige User bei lapidaren Tweets überreagieren und nunmehr mit geposteten Exkrementen, die sie mit Geistesleistung verwechseln, um sich werfen. Dass daraus resultierende Shitstorms zuweilen aus dem Ruder laufen und regelrechte – der geneigte Leser möge mir diesen mittelalterlichen Begriff verzeihen – Hexenjagden entbrennen. Die Empörten benötigen keine Judikative, um ein Urteil zu fällen.
Man könnte sich diesbezüglich an den Fall Justine Sacco erinnert fühlen. 2013 postete die damals 30-jährige vor ihrem Flug von London nach Kapstadt einen Tweet, dessen ironische und dialektische Dimension wie so oft zu eigensinnig und komplex für 140 Zeichen war. Als sie landete, lief bereits eine Hasskampagne inklusive eigenem Hashtag auf Hochtouren. Auf dem Flughafen wurde sie nunmehr offline verfolgt. Einen Tag später wurde sie von ihrem Arbeitgeber gefeuert.
Die chinesische Variante des Shitstorms bedeutet übersetzt übrigens so viel wie „Suche nach Menschenfleisch“. So war auf einem Video der Verkehrsüberwachung zu sehen, wie ein Mann aus seinem Auto sprang, eine Frau aus ihrem Auto herauszerrte und sie verprügelte. Der darauf folgende Shitstorm entlud sich jedoch nicht über den Angreifer, sondern über die Frau, die den Mann kurz zuvor geschnitten hatte. Innerhalb kürzester Zeit wurden das Nummernschild, der Personalausweis sowie private Gewohnheiten der Frau online gestellt. Ist eine Person als Opfer ausgerufen, werden bei der Suche nach Menschenfleisch Name, Ausweisnummer, Adresse, Arbeitsstelle, Familienangehörige usw. gerne öffentlich gemacht.
Aber letztlich sind die sozialen Medien etwas gänzlich anderes als der altertümliche Pranger. Sie müssen etwas gänzlich anderes sein. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter wurde gefoltert. Im Namen der Inquisition sollten Ketzer wieder auf Linie gebracht werden. Schuldige wie Unschuldige fielen der paranoiden Aufrechterhaltung der ideologischen Ordnung zum Opfer. Auf der Streckbank wurde jedem ein Geständnis entrungen. Dabei überboten sich die Folterer in der Kreation immer perfiderer Methoden.
Heutzutage wird nur noch in einigen schaurigen, aus der Zeit gefallenen Diktaturen wie Nordkorea gefoltert. Abgesehen von solchen Anachronismen werden weltweit Menschenrechte und demokratische Rechtstaatlichkeit geachtet. Kein demokratischer Rechtstaat würde es sich jemals erlauben, der Paranoia zu verfallen, seinen Way of Life verteidigen zu müssen. Kein demokratischer Rechtsstaat würde es sich jemals erlauben, willkürlich Personen, die mit dieser Weltanschauung nicht konform gehen, zu entführen und beispielsweise in einem Militärstützpunkt auf einer bananenrepublikanischen Karibikinsel einzukerkern. Niemals würde ein demokratischer Rechtsstaat abstruse Foltermethoden wie Waterboarding anwenden, um Geständnisse zu erzwingen. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Denn im Mittelalter war die Gesellschaft feudalistisch strukturiert. Im Feudalismus besaßen einige Wenige fast alles und der Rest fast nichts. Diese vermögende Elite konzentrierte gleichfalls die politische Macht auf sich; das niedere Volk musste sich dem Willen der elitären Souveräne beugen. Als Leibeigener war man zwar kein Sklave, über dessen Leben beliebig verfügt werden konnte, dennoch musste man ein Leben lang für seinen Feudalherrn schuften, um dessen Reichtum zu mehren. Durch das strikte Ständesystem blieb einer sein Leben lang der gesellschaftlichen Schicht zugehörig, in die er hinein geboren wurde.
Heute hat glücklicherweise der Kapitalismus gesiegt und die Demokratie ist so vital wie noch nie. Nur Querulanten wie Colin Crouch sprechen ernsthaft von der Postdemokratie, weil der Meinung sind, dass durch Privatisierungen, Einsparungen im öffentlichen Dienst und Lobbyismus grundlegende Bürgerrechte unterminiert und der Volkswille als demokratischer Souverän ausgehebelt werden würde. Sozialwissenschaftler wie Jürgen Habermas oder Harald Welzer sehen sogar schon den Neofeudalismus gekommen. Sie sehen Parallelen darin, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des weltweiten Vermögens besitzt und diese Kluft zwischen arm und reich zusehends größer wird; dass Bildungs- und Aufstiegschancen mehr denn je von der sozialen Herkunft determiniert sind; dass durch eine unzureichende Erbschaftssteuer neue Dynastien des Geldadels entstehen. Zu alledem gesellt sich natürlich die alte marxistische Leier, dass die moderne Lohnarbeit auch nur eine Form der Knechtschaft ist, die uns geschickt das Gefühl von Freiheit vorgaukelt. Demnach würden wir lediglich den Kapitalisten dienen, die wie die einstigen Feudalherren von der Arbeit anderer leben.
Aber auf solches linkes Geschwätz sollte man nicht viel geben. Diese kapitalismuskritischen Vergleiche sind doch mit der heißen Nadel gestrickt. Wir leben doch schließlich nicht im Mittelalter.

Alles in allem können wir froh sein, nicht mehr in dieser brutalen, rechtlosen Zeit des Mittelalters leben zu müssen. Wir haben uns als Menschheit nicht nur technologisch, sondern vor allem gesellschaftlich definitiv weiterentwickelt.
Um in diesem Sinne ein Bonmot Tick, Trick und Tracks aufzugreifen: Es ist eine wahre Lust, im 21. Jahrhundert zu leben.

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