Deutsche Ängste: Unpünktlichkeit

Verbissen-verbindlich vs. gleichgültig-gelassen: Wenn es um die ewig-deutsche Pünktlichkeit geht, spaltet sich die Gesellschaft in zwei Lager. In zwei recht ungleiche Lager, denn die große Mehrheit der Deutschen verlangt von sich und dem Rest Pünktlichkeit. Dabei lebt es sich in Gesellschaft der Unpünktlichen auch sehr gut.

Um allen Vorverurteilungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Dies ist kein Plädoyer für die Unpünktlichkeit. Wirklich nicht. Pünktlichkeit hat nämlich unbestreitbare Vorteile. Sie schafft Struktur, sie hilft bei der Erfüllung von Terminvereinbarungen und Zeitmanagement, manche erachten Pünktlichkeit – und das kann man anders sehen – sogar als Form des Respekts.

Meine Text richtet sich deshalb keineswegs gegen die Pünktlichkeit an sich. Himmel, das wäre furchtbar destruktiv. Es würde bedeuten, dass ich einen Kult verehre, der es bewusst darauf anlegt, ein sinnvolles und funktionierendes System zu boykottieren. Es würde bedeuten, dass ich Pünktlichkeit falsch finde, doch das tue ich nicht. Trotzdem habe ich aber ein Problem mit dem Zwang der Pünktlichkeit. Es gleicht einem Fetisch unserer Zeit, dass wir besonders in Deutschland eine sekundengenaue Pünktlichkeit pflegen. Manche Menschen schauen gar Minuten vor dem Ablaufen der vereinbarten Zeit streng prüfend auf ihre nach Atomuhr gestellte, tickende Armbanduhr. Sie warten schon ungeduldig, weil sie wahrscheinlich zehn Minuten zu früh sind.

Fakt ist, eine beträchtliche Mehrheit der Deutschen verlangt von seinen Mitmenschen, pünktlich zu sein. Konflikte gibt es immer dann, wenn beide Welten aufeinandertreffen: Pünktlicher trifft Unpünktlichen. Treffen sich hingegen zwei Pünktliche, kommen beide zur verbindlichen Terminierung, weil sie unbedingt gewillt sind, die gegenseitigen Erwartungen zu erfüllen. Treffen sich wiederum zwei Unpünktliche, gibt es auch keine Probleme: Einer kommt eben noch später, doch weil man die strenge Vereinbarung nicht erwartet, wird auch im Normalfall nicht gemeckert. Für sich funktionieren also beide Systeme prima.

Es ist wichtig zu betonen: Unpünktliche Menschen kommen nicht absichtlich zu spät. Gern wird vonseiten der Pünktlichen eine Bösartigkeit unterstellt, um dann etwa – ihrerseits bösartig – gegenüber Unpünktlichen anzukündigen, sich als Konsequenz nun bewusst zu verspäten. Problem: Unpünktliche wissen dann überhaupt nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen. Im Zweifel später losgehen, denn es wurde ja gerade die Treffzeit nach hinten geschoben…
Zwar besagen Forschungen, dass bei notorisch Unpünktlichen durchaus ein Problem mit Unterwerfung eine Rolle spielen kann sowie die Tendenz, als Nachkömmling besonders wichtig zu erscheinen. Aber es lässt sich keine grundlegend bösartige Intention annehmen, andere Menschen bewusst warten zu lassen. Es ist ihnen schlicht nicht so wichtig. Es sind nicht die Menschen, die ihnen nicht so wichtig sind, sondern die oftmals mit Verbissenheit befolgten durchreglementierten Strukturen.

Die Gesellschaft der Unpünktlichen pflegt einen gelasseneren Lebensstil. Es wäre vermessen zu sagen, Unpünktlichkeit sei gelebte Entspannung. Denn das implizierte wieder bewussten Systemboykott. Aber die Kunst, den zeitlichen Zwang zurückzufahren, was die Unpünktlichkeit zu einer Begleiterscheinung macht, führt zu Entspannung. Das Wort Pünktlichkeit, ob man es nun ist oder nicht, setzt bereits eine Auseinandersetzung voraus, ob sich jemand an eine gesetzte Pflicht hält. In der Gesellschaft der Unpünktlichen wird die Frage nach Pünktlichkeit und Unpünktlichkeit überhaupt nicht gestellt; weil niemand eine Pflicht gesetzt hat, die einzufordern wäre. Trotzdem führt dieser Habitus nicht ins völlige Chaos oder zu Realitätsverlust. Bestimmte Kontexte erfordern schlicht in höherem Maße Pünktlichkeit. Erstaulicherweise schaffen es selbst die unpünktlichsten Menschen doch irgendwie immer rechtzeitig ins Flugzeug. Wer die vermeintliche Tugend der Pünktlichkeit für überschätzt hält, ist in der Praxis nicht notgedrungen unpünktlich, auch nicht in Gesellschaft mit Gleichgesinnten.

Das Dilemma an diesem Text ist: Den Menschen „vom gleichen Ufer“ erzähle ich nichts Neues und denjenigen „vom anderen Ufer“ werde ich meinen Habitus nicht begreiflich machen können. Das ist auch gar nicht nötig. Sie mir ihren ja auch nicht. Aus den Auffassungen zur Pünktlichkeit lassen sich vermutlich ganze Weltbilder ableiten. Die einen ersuchen feste Strukturen, deren Einhaltung sie von der Umwelt und von sich selber voraussetzen. Die anderen begegnen Strukturen offener und unverkrampfter; bei sich selber wie auch bei ihrer Umwelt. Man kann sich nur in einem der Systeme wohlerfühlen: verbissen-verbindlich oder gleichgültig-gelassen. Das „andere Ufer“ zu bekehren, ist weder der Mühe wert noch angebracht.

Wie versprochen, dies ist kein Plädoyer für die Unpünktlichkeit. Es ist allenfalls ein Plädoyer für die Unpünktlichkeitsdesensibilisierung. Und für die Koexistenz zweier funktionierender Systeme, von dem eins in der Minderheit ist.

Bildquellen

  • 13931453_1097867563667362_575221546_o: Theo Wurth