Lieblingsdinge: Alte Züge
Alte Züge rattern ehrlicher, findet unsere Autorin. Neues aus unserer Reihe Lieblingsdinge.
Das Rattern des Zuges und der strahlende Himmel über mir. Der Fahrtwind, der durch das geöffnete Fenster in unregelmäßigen Abständen Erholung von der stehenden Hitze bringt. Die Apfelbäume, die zwischen kleinen Häusern auf Hügeln, um Schienen, neben Wiesen, unter dem riesigen blauen Himmel stehen. Meine Zunge liegt eingelegt und bepelzt in 38 Grad Körpertemperatur und die 38 Grad sitzen zusammengesackt in 34 Grad im Schatten, den Kopf an den Rucksack gelehnt. Alle Fenster des Abteils sind offen und so drückt mir ein Luftschwall von links, und von rechts in schnellem Wechsel gegen das Trommelfell. Kurz halten wir in dem kleinen Ort Osterburken – der links-rechts Wechsel setzt aus – und die Menschen auf dem Bahnsteig bedecken ihre Augen, als hätten sie die Welt noch nie so hell gesehen.
Der Zug in dem ich sitze ist alt. Züge wie diesen habe ich vermisst. Ich vermisse die, die noch rattern. Es ist ein ehrliches, mechanisches Rattern, das ich verstehen kann: Jemand hat eine Schraube nicht festgezogen. Der Wagonhimmel löst sich langsam. Das Fenster bewegt sich in seiner Halterung. Er ist alt und ich verstehe das. Es sind die Züge mit den abgewetzten Lederbänken, die zu vierer Sitzgruppen gepaart sind und wie zu breit geratene Ohrensessel mit harten Armlehnen wirken. In diesen Zügen müsste man großformatige Zeitungen lesen und einen Hut tragen. Wenn man ganz genau riecht, meint man noch die Jahrzehntealten Zigaretten erahnen zu können, die hier einst geraucht wurden.
Inzwischen schwitze ich auch auf den Handrücken. Die Schienen und das Rattern und der strahlende Himmel und die bepelzte Zunge drücken mir von innen gegen die Schädelknochen, sie pressen sich hinaus an die Oberfläche wie durch einen festen Schwamm und rinnen mir in großen Tropfen vom Gesicht. Zwischen meiner Oberlippe und Nase, in der kleinen Kuhle, bildet sich ein See aus Staub und Schweiß. Ich beobachte die gleichförmige Wiederkehr von Strommasten entlang der schwarzen Oberleitung, die den Himmel in zwei Teile trennt.
In den alten Zügen traut man den Lokführern noch zu, ihre Ansagen selbst zu machen. Keine drei elektronischen Gongs und dann eine aufgenommene Stimme. Der nächste Halt ist Neckarsulm, sagt er freudig. Ne-Kar-Sulm, seine Stimme tanzt fast, als freue er sich wirklich auf Ne-Kar-Sulm. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, was passieren würde, wenn der Lokführer einfach etwas anderes sagt, nicht den Ortsnamen sondern irgendetwas Lustiges. Er könnte ja. Er könnte ja alles sagen und die Passagiere müssten ihm zuhören. Es wäre wie eine Superkraft. Einmal sagte ein Lokführer „Und genießen Sie das Wochenende in vollen Zügen“- Der Witz war damals schon so alt, aber alle lachten und tauschten Blicke aus und rollten auch ein bisschen mit den Augen. Das war magisch.
Baum, Hügel, Feld, Auto, Weinberg, Feld, Haus, Sportplatz, Feld Kleingarten, Deutschland. Feld. Und immer noch das mechanische Rattern und der Singsang von Ne-Kar-Sulm.
Bildquellen
- train-1056439_1920: PIxabay