Nach G20: Symptomatik des postfaktischen Zeitalters
Den Tod des demokratischen Rechtsstaats auszurufen wäre übereilte Hysterie. Aber wie gut kann es um Demokratie und Rechtsstaat bestellt sein, wenn ihre Werte nicht nur von Links und Rechts, sondern auch von der Mitte der Gesellschaft missachtet werden?
„Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“ Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz hoffte vergeblich; so schnell war der G20-Gipfel 2017 nicht vorbei. Aufgrund des Nachspiels in Form hitziger Debatten über die Gewalttaten fand der Gipfel erst nach fast einer Woche ein Ende.
Dabei verlief der Gipfel wie erwartet. Auf der einen Seite entschied eine kleine quasi-monarchische Kaste, dass die Menschheit weiterhin einen neoliberalen Kurs einzuschlagen hat. Auf der anderen Seite lieferten sich gewaltbereite Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Alles in allem war das Gipfel-Wochenende damit genauso wenig überraschend wie Herpes nach einem Besuch auf dem Hartgeldstrich.
Woher rührte dann diese Entrüstung in den Tagen danach? So mancher 1. Mai in Berlin fiel bezüglich verletzter Polizisten ebenso schlimm, wenn nicht sogar schlimmer aus. Vielleicht lässt die Empörung über den Vandalismus mehr Rückschlüsse über den Zustand unserer bürgerlichen Gesellschaft und ihres demokratischen Rechtsstaats zu als der Gipfel selbst.
Der Rechtsstaat wird von zwei Seiten angegriffen
Dass die Randalierer – die in Relation zu den friedlichen Demonstranten eine Minderheit darstellten – den Rechtsstaat attackieren, dürfte offensichtlich sein. Der Unmut der friedlichen Demonstranten richtet sich vornehmlich gegen das vorherrschende Wirtschaftssystem in Form des Kapitalismus, nicht gegen das politische System in Form des demokratischen Rechtsstaats. Sie demonstrieren dementsprechend innerhalb der Regeln eben jenes Politsystems.
Die Randalierer hingegen lehnen – solange sie tatsächlich politisch motiviert und keine Gewalt-Touristen sind – nicht nur das Wirtschaftssystem, sondern mit ihm das politische System ab. Dass beides nicht mehr klar zu trennen ist, mag eventuell mit hineinspielen. Ihr Protest kann und will sich folglich nicht an die Regeln des vorherrschenden politischen Systems halten. Er verlangt keine Veränderung innerhalb jenes Systems, sondern seinen Sturz. Daher ist der Protest im wahrsten Sinne des Wortes unsystematisch.
Die Verachtung der gewaltbereiten Randalierer gegenüber der rechtsstaatlichen Ordnung wurde heftig kritisiert. Doch dabei zeigten sich die Kritiker ebenso verächtlich gegenüber der Rechtsstaatlichkeit wie die Randalierer.
Wie Sascha Lobo in Kolumne bei Spiegel Online hervorhob, kamen Kommentare wie „Abschlachten das Pack“, „zur Strafe selbst anzünden“ oder „Erschießen ist zu gnädig“ nicht von den radikalen Rändern (diese waren ja auf der Straße), sondern aus der bürgerlichen Mitte:
„Nach und nach fallen Äußerungen von einer Qualität, wie man sie von Rechtsradikalen zu Flüchtlingen gelesen hat. Nur, dass sie jetzt am Facebook-Profil erkennbar aus der Mitte der Gesellschaft kommen, von Familienvätern, Gewerkschaftsmitgliedern, Leuten, die ihren Biosupermarkt um die Ecke gelikt haben.“
Die Randalierer zeigen in ihrer Ablehnung eine konsequente Haltung innerhalb ihrer weltanschaulichen Logik, was man von den eigentlichen Befürwortern und Verteidigern der Rechtsstaatlichkeit in diesem Fall nur schwer behaupten kann. Denn sollten die Verfechter des Rechtsstaats nicht auf seine legitimierten Mittel anstatt auf Selbstjustiz und einen antiquierten Strafenkatalog zurückgreifen? Sie positionieren sich damit außerhalb des Rechtsstaats, um jenen eine Lektion zu erteilen, die sich außerhalb des Rechtsstaats positionieren. Die größte Gefahr für ein Wertesystem geht von jenen aus, die die Werte aufgeben, um sie angeblich zu verteidigen.
Hexenjagd
Dem Ganzen setzte – einmal mehr, wie man behaupten möchte – die Bild-Zeitung die Krone auf. Ohne Beweise und ohne Verfahren sprach sie irgendwelche x-beliebigen Personen schuldig und gab sie damit zum Abschuss frei. Mit ihren öffentlichen Fahndungsaufrufen ernannte sich die Bild zum Ankläger und Richter in Personalunion und erhob sich damit über das Justizsystem.
Generell spiegelte die Berichterstattung in der Woche nach G20 die mediale Schnelllebigkeit unserer Zeit wider. Sowohl ein Großteil der Berichterstatter als auch der Rezipienten scheinen mittlerweile die Aufmerksamkeitspanne von Fruchtfliegen zu besitzen. Im Wochenrhythmus werden die Säue durchs Dorf getrieben. Das Top-Thema der Vorwoche ist dabei genauso schnell vergessen wie all die anderen Dinge um uns herum, die noch lange nicht aus der Welt sind, nur weil wir nicht mehr über sie sprechen.
Was wurde eigentlich aus Franz Beckenbauer und der gekauften Fußball-WM? Wie präsent sind uns noch die Taten des NSU und die Gefahr eines rechten Terrornetzwerks? Wer interessiert sich nach zwei Wochen überhaupt noch für G20 in Anbetracht eines deutschen Autokartells?
Viel zu oft entwickelt sich in der Kürze der Zeit eine Art Hysterie um das aktuelle Thema der Woche. Die neueste Nachricht muss so schnell wie möglich in die Welt hinausgeschrien werden. In Konkurrenz zu Facebook und Twitter bleibt den professionellen Nachrichtenmedien wenig Zeit, gesicherte Fakten zu präsentieren. Vor allen in den Sozialen Medien werden diese Fakten jedoch sowieso von Meinungen lautstark übertönt. So verliert sich alles in einem ohrenbetäubenden weißen Rauschen. Wir sind nicht mehr in der Lage, auch mal leise Töne anzuschlagen und die Stimme erst dann zu erheben, wenn es erforderlich ist.
Durch die Wellen der Empörung und die Shitstorms wird jeder Sturm im Wasserglas als Extrem wahrgenommen. Egal ob Wetter oder Terror: alles ist extrem wichtig, extrem in seinen eigenen Ausmaßen und natürlich extrem schlimm und traurig. Aber wenn sich alles nur noch in Extremen bewegt, verlieren wir das Gespür für das, was tatsächlich extrem ist. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, es als solches zu erkennen.
Wir verlieren jegliches Gefühl für Verhältnismäßigkeit. So werden die Tumulte in Hamburg mit Krieg verglichen, als ob auf deutschem Boden nie etwas Schlimmeres stattgefunden hätte. Syrien und der Jemen scheinen paradisisch im Vergleich zum Hamburger Schanzenviertel am 8. Juni 2017.
Die dahinsiechende Demokratie
Seit vergangenem Jahr wissen wir, dass wir in postfaktischen Zeiten leben. Aber unser postfaktisches Zeitalter definiert sich nicht nur über alternative Fakten und Fake News. Es definiert sich darüber, dass wir uns als Gesellschaft von Emotionen anstatt von Tatsachen regieren lassen. Wenn der wahlberechtigte Pöbel schreit und die Politiker daraufhin in Aktionismus verfallen; wenn wir uns nicht mehr die Zeit nehmen, einen Schritt zurückzutreten, um die Dinge rational zu analysieren und daraufhin ein Urteil im Sinne demokratischer und rechtsstaatlicher Werte zu fallen, dann schadet das der Demokratie und dem Rechtsstaat mehr als das es ihnen nützt.
Bildquellen
- 1000_Gestalten_-_Hamburg_Burchardplatz_18: Frank Schwichtenberg / CC BY-SA 4.0