Hin und Her – Eine Reiseliebesgeschichte

Pendeln für die Liebe. Eine Reiseliebesgeschichte nach einer wahren Begebenheit über das ewige Hin und Her einer Fernbeziehung.

Hin

Ich reise zu Dir. Am Bahngleis beobachte ich einen Müllmann, der diese viergeteilten Behälter leert. Heute ist so ein Tag, denke ich. Liebst du einen, liebst du alle.

Her

Mir gegenüber sitzt die Puddingbrezelfrau. Das ist ab sofort ihr Name. Ich werde noch oft an sie denken und daran, wie wütend Du mich machen kannst. Sie sitzt da, mir gegenüber an einem Viererplatz. Diese mit dem kleinen Tischchen in der Mitte. Sitzt einfach da und hat vor sich auf eben diesem Tischchen ein perfektes, glänzendes Gebäckstück auf seinem Bäckereitütenzuhause platziert. Und dann tut sie nichts. Das ist als hätte jemand einen Köder ausgeworfen. So wie Kinder sich manchmal im Gebüsch verstecken mit einem langen Bindfaden in der Hand, der um ein Portemonnaie gewickelt ist, das vorn auf der Straße liegt. Nur noch gemeiner. Nach einer geschlagenen halben Stunde wechsle ich den Platz, damit ich dieser Sadistin ihr verschmähtes Angeberfrühstück nicht ins Gesicht klatsche.

Hin

Ein aufgebrachtes dickliches Pärchen in pärchenkarierten Simultankonstrasthemden schreit den Bistrowagen zusammen, weil die heiße Schokolade erstens eine Million kostet und zweitens nur nach gefärbtem Zuckerwasser schmeckt. Die beiden sind wunderbar. Ich setze mich an einen freien Tisch ganz in der Nähe, warte bis sie wutentbrannt das Abteil verlassen, gehe zur Bar und sage: „Ich nehme das, was sie hatten.“

Her

Es ist 16.29 Uhr irgendwo zwischen Göttingen und Hildesheim. Ich habe keinen Sitzplatz und außerdem keine Geduld. Ich lehne mich an die Wand im Gang und starre auf den kleinen blauen Bildschirm. Augsburg Hbf – München Pasing – München Hbf steht darauf, als wäre ich gleich bei dir.

Hin

Am Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe schaue ich aus dem Fenster. Die kreisrunde Aussparung in einer der flachen roten Säulen am Gleis bildet einen Rahmen um einen mittelalten, furchtbar schnöseligen Herren mit ebenfalls rotem, gewollt lässig um den Hals geschlungenem Schal. Dr. E., heißt der Mann. Dr. E. und ich hatten einmal ein Date. Während seiner Vorlesungen fand ich ihn hinreißend. Abends bei Kerzenschein und einem Glas Wein hatte ich plötzlich das Bedürfnis ihm zu erzählen wie es sich anfühlt, wenn einem bei einer Kaiserschnittgeburt mit lokaler Betäubung der Bauch aufgeschnitten wird. Eine kluge Entscheidung.

Her

6er-Abteil, wir sind zu zweit. Ich am Fenster und ein grummeliger Geschäftsmann mir schräg gegenüber an der Tür. Ein freundlich lächelndes arabisch sprechendes Paar stapelt bergeweise Koffer und Taschen vor die Glastür unserer Kabine. Um ihnen behilflich zu sein und die freien Plätze anzubieten, öffnet der Geschäftsmann die Schiebetür mit Schwung und klemmt sich dabei den kleinen Finger. Das ändert alles. Die Welt sollte stehen bleiben, sagt sein Gesicht. Hier gibt es jetzt einen Verletzten, der seine Ruhe braucht und vielleicht eine Krankenschwester, aber sicher keine weiteren Mitreisenden. Da alle anderen die Geschehnisse als die Lappalie einschätzen, die sie ist und sich ungerührt ihrer Reiselektüre widmen, bleibt dem Unfallopfer nichts weiter übrig, als die restlichen 400 km der Strecke seine unsichtbare Wunde in die Luft zu halten und ab und zu laut zu Stöhnen. Wenn er zwei gesunde Hände hätte, würde er seine Mutter anrufen.

Hin

In Würzburg gibt es offensichtlich ein Gleis von dem aus nur Menschen unter 1,60 m verreisen dürfen.

Her

Irgendwann, wenn unsere Welt – Deine und meine – endlich auf die langersehnte Winzigkeit zusammengeschrumpft ist, werden die Zugfahrten mir vielleicht fehlen. Die Reiserei ist nur eine Zwischenstation, die ich genauso gut einfach lieb haben könnte. Vorerst allerdings könnte ich kotzen.

Hin

In der Reihe vor mir sitzt ein junger Polizist. Uniformiert reisen die Beamten kostenlos und wirken dann oft unnötig geschäftig – zum Ausgleich vielleicht. Dieser ist freundlich, entschuldigt sich für jeden Nieser und jedes Handypiepen, trägt diverse fremde Koffer durch die Gegend. Um in seiner Nähe sein zu können, denkt die kesse, nach Kinderparfum duftende Zugbegleiterin sich trotzdem immer wieder zusätzliche Aufgaben für ihn aus: eine grundsätzliche Frage hier, ein schwieriger Mitreisender da. Die beiden sind so klebrig freundlich zueinander, dass sie vermutlich nicht mehr so schnell voneinander loskommen werden. Ich sehe ihre unifarbenen Nachkommen ganz deutlich vor mir.

Her

Der weißmehlsandwichfressende, nach Tauben tretende Idiot am Gleis gegenüber muss heute Abend hoffentlich auch allein ins Bett.

Hin

Das glückliche, weil gemeinsam reisende, Paar in meinem Abteil hat es nicht eilig. Jeder von ihnen hat sein Ziel ja bereits neben sich sitzen. So fällt es den beiden leicht, belustigt davon zu sein, dass einige Mitreisende bereits 18 Minuten vor Ankunft am nächsten Bahnhof zu den Ausgangstüren pilgern. Mir hingegen ist diese Ungeduld sehr sympathisch. Wäre es mir nicht zu peinlich, würde ich bereits seit Stunden in Gang auf und ab hüpfen. Für den Fall, dass wir unterwegs in ein Zeitloch geraten und überraschend früh in München ankommen, hab ich mich seit Göttingen bereits zwei mal umgezogen und vier mal meinen Lippenstift erneuert.

Her

„MeineDamenundHerrenwillkommenanBorddesICE326vonMünchennachHamburgAltona….“ Unser Zugführer atmet nicht. Das macht mir Angst.

Hin

Ich habe den besten Platz im ganzen Zug. Ich sitze allein in dem 6er-Abteil mit freier Sicht auf die kaputte Schiebetür im Gang. Zum ersten Mal vergeht auf meiner unendlichen Reise zu Dir die Zeit in einer erträglichen Geschwindigkeit. Ich kann als einzige genau beobachten, wie der nur sporadisch funktionierende Bewegungsmelder der Tür in den vorbeikommenden Fahrgästen die unterschiedlichsten Reaktionen hervorruft. Mal fluchen sie lauthals, mal beschwören sie still die Geister der Tür, mal starten sie einen zweiten und dritten Versuch, in das angrenzende Abteil zu gelangen und geben dann kopfschüttelnd auf. Die größte Freude bereiten mir diejenigen, die nach dem ersten Scheitern einen zweites Mal bester Dinge auf die Tür zulaufen, wieder scheitern, dann bemerken, dass sie beobachtet werden und plötzlich so tun, als wären sie nie daran interessiert gewesen, in diese Richtung weiterzulaufen. Sie lehnen sich an die Wand, schauen kurz auf ihr Handy oder aus dem Fenster und gehen zurück woher sie kamen, als wäre ihr Auftrag damit erledigt. Nur ganz wenige begreifen, dass es schon genügt eine Hand ganz dicht unter den Sensor über der Tür zu halten, um sie zu öffnen. Für alte Menschen mit schweren Koffern, kleine Kinder und attraktive Herren spiele ich manchmal den Portier. Könnte ich bloß immer so reisen.

Her

Zwei bebrillte Herren am Gleis machen einen Uhrenvergleich, einer raucht dabei einen Zigarillo, der Andere trinkt Kaffee aus einem Pappbecher. Sie stellen nickend fest, dass noch keine Eile besteht. Kann ich nicht nachvollziehen.

Hin

Spontane Abreise. Ich stecke nur eine Unterhose, meine Zahnbürste und ein Buch in meine Handtasche und erreiche gerade noch den letzten Zug. Es wird ein kurzer Aufenthalt bei dir dieses Mal. Ungefähr so kurz wie das Kleid, das ich trage. Als der Anschlusszug in Fulda eineinhalb Stunden Verspätung hat, bin ich trotzdem die Einzige die am verschneiten Gleis ausharren kann ohne zu frieren.

Her

Der Kontrolleur ist zu jedem freundlich außer zu mir. Wenn er zurück kommt, stelle ich ihm ein Bein.

Hin

Ich halte mich bereit, das Mädchen mit graphisch gemusterter Bluse, das schlafend vom Sitz zu kippen droht aufzufangen und streiche später beim Vorübergehen über die Spitzen gegelter Männerhaare, ganz sanft.

Her

Diesmal war es schrecklich. Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Ich sitze in Fahrtrichtung, kein Blick zurück, und fühle mich etwas betäubt. Ich zähle die Stunden, bis ich endlich die Wohnungstür hinter mir schließen und dieses laute Schluchzen rauslassen kann, das seit München-Hauptbahnhof in meiner Kehle hängt. Du schreibst mir eine SMS, etwas ganz kleines alltägliches. Mir gegenüber, da wo es an diesem Tag für die Puddingbrezelfrau keine Chance gegeben hätte, ihr Gebäck vor mir zu verteidigen, sitzt diesmal ein älterer Herr. Als ich von deiner Nachricht wieder aufschaue sieht er mich einen Moment an und sagt: „Na, dann ist ja alles wieder gut, oder?“ Und er hat recht.

Dieser Text erschien ursprünglich im BLOCK Magazin #3

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