Red Dead Redemption 2: Gutes Spiel, noch bessere Story

Das hochgelobte Western-Spiel Red Dead Redemption 2 besticht nicht nur als Game, sondern vor allem als Erzählung. Ein Blick auf Genre-Traditionen, historische Bezüge und langsames Erzählen.

Red Dead Redemption 2 wurde nach seinem Release im Oktober 2018 zurecht hochgelobt. Aber wie gemeinhin üblich wurde Red Dead Redemption 2 in erster Linie für seine Eigenschaften als Videospiel gelobt. Computer Bild Spiele hob beispielsweise Grafik, Animationen, abwechslungsreiche Aufgaben, Interaktionssystem und „filmreif inszenierte Cut-Scenes“ hervor.

Noch immer besteht der Eindruck, dass Spiele vornehmlich als technisches Produkt und weniger als ästhetisches Ausdrucksmittel betrachtet werden. Künstlerische Aspekte wie das Storytelling scheinen eine eher untergeordnete Rolle bei der Betrachtung von Videospielen einzunehmen, was nicht zuletzt darin begründet sein dürfte, dass Games nach wie vor nicht die Relevanz als Kunstform und Erzählmedium innehaben wie Filme, Serien oder Bücher, obwohl sie den anderen Medien aus ökonomischer Sicht schon lange ebenbürtig sind, teilweise sogar den Rang abgelaufen haben.

Doch gerade Red Dead Redemption 2 besticht nicht nur als Spiel, sondern insbesondere als Erzählung mit einer bemerkenswerten Dramaturgie und Charakterentwicklung.

https://www.instagram.com/p/BpXDkNNHpvl/

Unerwartetes Genre

Das Erstaunliche an Red Dead Redemption 2 ist zugleich das Offensichtliche: Es ist ein Western. Als solcher hat es sich im Jahr 2018 zu einem der erfolgreichsten Produkte in der Geschichte des Entertainments aufgeschwungen. Dieser Umstand ist insofern erstaunlich, da das Westerngenre schon lange nicht mehr den kulturellen Stellenwert besitzt wie während seines Goldenes Zeitalters in den 1940er/50er Jahren oder während seiner Renaissance in Form des Italowesterns in den späten 1960ern.

Abgesehen von einzelnen Kassenschlagern wie Der mit dem Wolf tanzt, The Revenant oder den beiden Tarantino-Western, scheint der Western mittlerweile eher etwas für Genreliebhaber zu sein. Die letzte große Westernproduktion – Hostiles (2017) mit Christian Bale – war ein Flopp an den Kinokassen. The Sisters Brothers – ein Film, der dieses Jahr in die deutschen Kinos kommt – wurde zwar nach seiner Premiere bei den letztjährigen Filmfestspielen in Venedig gelobt, wird aber aller Voraussicht nach ebenfalls kein Kassenknüller.

https://www.instagram.com/p/Bs_jxQ6AaNk/

Epische Erzählung

Red Dead Redemption 2 ignoriert gewissermaßen den aktuellen Trend und zeigt dabei sogar Merkmale eines epischen Westerns. Laut des Kulturwissenschaftlers Georg Seeßlen (Filmwissen Western, S. 34f.) zeichnet sich ein epischer Western durch seinen hohen Produktionsaufwand, seine (historische) Detailversessenheit sowie natürlich seinen finanziellen Erfolg aus.

Die Produktionszeit von Red Dead Redemption 2 betrug sieben bis acht Jahre. Die offiziellen Produktionskosten sind nicht bekannt, dürfte aber kaum weniger gekostet haben als Rockstar Games‘ vorheriger Blockbuster GTA V, der schätzungsweise 137265 Millionen Dollar verschlang. Daneben wurden in die Spielwelt von Red Dead Redemption 2 zweihundert Tierarten integriert. So lobten Ornithologen ausdrücklich die akkurate Darstellung der Vogelwelt.

https://www.instagram.com/p/BoHIcDoHURa/

Auf der Handlungsebene ist der epische Western laut Seeßlen ursprünglich „die Verknüpfung eines großen historischen Moments, in den kollektiver Heldenmut neues Land und neues Gesetz schafft, mit individuellem Schicksal; das große Gefühl ins kleine gespiegelt.“ Den ersten Teilaspekt verkehrt Red Dead Redemption 2 ins Gegenteil, da das Spiel nicht von der Eroberung des Westens, sondern vom Ende seiner Eroberung erzählt. Dennoch steht das Schicksal seiner Protagonisten stellvertretend für das Schicksal im großen historischen Moment.

Zeiten ändern sich

Bereits das Vorgängerspiel sprach das closing of the frontier an und zeigte den Wechsel vom Wilden Westen hin zur Moderne, beispielsweise in Form des Autos der Pinkerton-Detektive als Gegenentwurf zum Pferd als gewohntes Fortbewegungsmittel. Doch ist dieser Zeitenwandel in Red Dead Redemption bereits abgeschlossen und der Hauptfigur John Marston bleibt nichts weiter übrig, als der Vergangenheit nachzutrauern.
Red Dead Redemption 2 hingegen macht genau diesen Epochenwechsel erfahrbar, indem aus Sicht Arthur Morgans geschildert wird, wie dessen Gang um Bandenführer Dutch van der Linde darum kämpft, im Zuge der sich immer weiter ausbreitenden Zivilisation weiterhin ein Leben als Outlaws zu führen.

https://www.instagram.com/p/BowwolKHaxp/

Dabei kämpfen die Bandenmitglieder im doppelten Sinn um ihren Platz: einerseits im übertragenden Sinn um ihren Platz außerhalb der Gesellschaft, da Gesetz und Zivilisation in ihrem Absolutheitsanspruch keine Außenseiter akzeptieren können; andererseits um ihren konkreten räumlichen Platz zum Wohnen, da „unzivilisiertes“ Land, also das Land, das keinem gehört und in dem man ungestört von staatlicher Autorität leben kann, schwindet. Beides drückt sich in den häufigen Standortwechseln der Bande aus.

Alles zu seiner Zeit

Wenn an dieser Stelle von der Handlung die Rede ist, ist damit selbstverständlich die Hauptmission von Red Dead Redemption 2 gemeint. Die erste Hälfte der Handlung ist geradezu unspektakulär und dient kaum mehr als dem Zweck, den Spieler mit den Spielmechaniken und -abläufen vertraut zu machen und um in typischer Videospiel-Manier eine Rechtfertigung zu finden, den Spieler von A nach B zu schicken, damit er NPCs abschießen kann. Doch wie sich im fortschreitenden Verlauf zeigt, dient diese erste Hälfte vielmehr dem behutsamen Aufbau der weiteren Handlung.

Denn ungefähr ab der zweiten Hälfte, wenn Arthur und Co. in St. Denis eintreffen, nimmt die Handlung an Fahrt auf. Der Plot verdichtet sich, die Konflikte der bis dahin losen Handlungsfäden (Rivalität mit einer anderen Gang, vor den Pinkertons flüchten, mit einem Großunternehmer anlegen, zwischen die Fronten einer Familienfehde à la Hatfield/McCoy inkl. Anleihen an Romeo und Julia geraten) verschärfen sich, wirken teilweise aufeinander ein und zwingen die Charaktere zu immer neuen Entscheidungen, was zu neuen Konflikten führt und neue Entscheidungen erzwingt, was den Plot vorantreibt.

https://www.instagram.com/p/BoHxqYUnL_W/

Mit seiner zunächst ruhigen Erzählweise scheint das Spiel eine ähnliche Entschleunigung an den Tag zu legen wie bei seiner Spielweise mit den langen Ritten, den Alltagsroutinen oder den Schießereien, die zwar dem historischen Setting, aber nicht dem Tempo gängiger Action-Shooter anno 2018 entsprechen. Diesbezüglich ist Rockstar Games ähnlich antizyklisch wie bei der Wahl des Genres.

Charakterentwicklung

Mit seinem gemächlichen Beginn erinnert Red Dead Redemption 2 an Breaking Bad, dessen erste Staffel im Grunde ein Krebs-Drama war und kaum erahnen ließ, wohin die Reise gehen würde. Im Laufe von Breaking Bad kamen anfängliche Nebenfiguren wie Walter Whites Ehefrau Skyler oder sein Schwager Hank immer stärker zum Tragen und wurden zusehends vielschichtiger und damit interessanter. In Red Dead Redemption 2 sind es nicht weniger als die insgesamt 23 Mitglieder der Van der Linde-Gang, in deren Entwicklung viel Arbeit gesteckt wurde, wie die Variety in einem ausführlichen Feature schildert, um aus ihnen glaubhafte Individuen mit eigener Geschichte zu machen, von denen jeder auf seine Art die Story bereichert.

https://www.instagram.com/p/BpSWH6onsAv/

Das ist prinzipiell die Stärke von modernen TV-Serien, den Figuren Zeit zu geben, sich während der staffelumfassenden und -übergreifenden story arcs zu entfalten. Red Dead Redemption 2 knüpft hieran an. Die beiden Charaktere, die hierbei die bemerkenswerteste Entwicklung durchlaufen, sind natürlich die beiden Hauptfiguren Arthur Morgan und Dutch van der Linde.

Arthur Morgan beginnt als blasser, nahezu langweiliger Charakter, womit er sich zunächst in die Reihe vieler allgemeingültiger playable characters einreiht: Er darf kein Arschloch sein, weil sich Spieler sonst nicht mit identifizieren könnten, er ist aber auch kein harmloser, netter Pazifist, weil er sonst in Widerspruch zu einer eventuell gewalttätigen Spielweise des Spielers stehen würde. So sagt Arthur zunächst zu allem Ja und Amen, um sich von den NPCs von einer Mission zur nächsten schleppen zu lassen.

https://www.instagram.com/p/BiXZq9CHBjV/

Emanzipation

Doch Arthurs anfängliche Charakterlosigkeit könnte aus dramaturgischer Sicht seine Treue zu Dutch und sein Vertrauen in dessen Entscheidungen ausdrücken. Denn nachdem die Bande in Folge der Ereignisse sowie Dutchs fragwürdige Entscheidungen immer weiter auseinanderfällt und Arthur sich in Folge seiner Tuberkuloseerkrankung seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wird, was in recht poetischen Bildern illustriert wird, gewinnt er an Tiefe und emanzipiert sich zusehends von seinem Ziehvater.

Die Schlüsselszene, die diese Emanzipation und damit den Bruch zwischen den beiden Hauptfiguren auf den Punkt bringt, ist jene vor dem letzten großen Coup. Arthur hat mittlerweile realisiert, dass die Gruppe zerbricht und ist vor allem um die Sicherheit seines Freundes John Marston sowie dessen Frau und Sohn bedacht. Bevor die Gruppe zum finalen Coup ausreitet, sucht Arthur das Gespräch mit Dutch, um ihm Vernunft einzureden und darum zu bitten, John und seine Familie ziehen zu lassen. Dabei wählt er intuitiv die Worte: „I’m afraid I have to insist.“

https://www.instagram.com/p/BpSBZ0cn75S/

Während Arthur weiterredet, das Scheitern des Plans und mögliche Tote befürchtet, braucht Dutch einen Augenblick, um Arthur anzuschauen und ungläubig nachzufragen: „Insist?“ Wichtiger, als die beiden darauffolgenden Dialogzeilen, sind die Pausen dazwischen. Denn der Rest ist Schweigen. Das ist pointiert inszeniert und in dieser Form, mit den dramatischen Pausen und den stummen Blicken, nur auf einer audio-visuellen und schauspielerischen Ebene möglich.

Diese Szene ist der Moment, in dem die Bande zwischen den beiden Männern reißt. Auf der einen Seite zeigt Arthur zum ersten Mal offenen Widerstand gegen Dutch, aber nicht aus einer bewussten Auflehnung heraus, sondern eher ungewollt aus der Überzeugung für sein Anliegen heraus. Auf der anderen Seite realisiert Dutch in diesem Moment, wie sich sein langjähriger Gefährte von ihm abkehrt – zumindest nach Dutchs eigenem Verständnis.

Tragischer Narzisst

Während Arthur seine Zeit braucht, um zu reifen, sind es derweil die anderen Bandenmitglieder, die als individuelle Charaktere bestechen und die Handlung vorantreiben. Am deutlichsten sticht hierbei natürlich Dutch van der Linde heraus – und das nicht nur, weil er der charismatische und zugleich manipulativ-narzisstische Anführer ist.

https://www.instagram.com/p/BicQsaln055/

Im Vorgängerspiel war Dutch kaum mehr als ein MacGuffin und eine Art Endboss. Der eigentliche Konflikt bestand zwischen John Marston und den Pinkerton-Agenten. In Red Dead Redemption 2 durchlebt Dutch allerdings die faszinierendste Entwicklung: vom augenscheinlich starken, visionären Anführer hin zum gebrochenen, desillusionierten Mann.

Nachvollziehbarkeit der Entwicklung

Dutch tritt zu Beginn als verantwortungsbewusster und entscheidungsfreudiger Bandenboss auf, der stets zu wissen scheint, was zu tun ist. Auch die Bande selbst wirkt auf uns grundsätzlich sympathisch und weckt unsere Empathie, bekommen wir doch keine eiskalten Killer bei einem Raubzug zu sehen, sondern eine Schicksalsgemeinschaft von Männern, Frauen und Kindern, die vor einem fürchterlichen Schneesturm Schutz suchen.

Der Verfall der Gruppe und Dutchs persönlicher Niedergang wird uns (aus Arthurs Perspektive) als fortschreitender Prozess geschildert. Die Ereignisse, die auf die Gruppe einwirken, sowie die Entscheidungen, die die Protagonisten treffen, können wir Schritt für Schritt nachvollziehen. Dadurch lassen sich sogar Dutchs Taten, die von Arthur und damit prinzipiell auch von uns als unmoralisch bewertet werden, als Notwendigkeit interpretieren.

Tragisch statt böse

In der vorherrschenden Amoralität des Western, in der der Colt nur ein Werkzeug und ein Mord immer eine Handlungsoption ist, kann sogar Dutchs Ermordung der alten Frau auf der Karibikinsel dahingehend erklärt werden, dass die Umstände ihn dazu zwangen, wurde er doch schließlich von ihr erpresst und mit einem Messer bedroht.

https://www.instagram.com/p/BpRmtRFnrV0/

Daher ist Dutch kein Bösewicht im klassischen Sinn; er ist nicht zwingend der Antagonist unserer Identifikationsfigur Arthur. Vielmehr sind Arthur und Dutch zwei Seiten derselben Medaille. Sie verfolgen durchaus denselben Zweck (das Fortbestehen der Gruppe), jedoch mit unterschiedlichen Mitteln.

Dutch ist vielmehr ein tragischer Held, da er stets in dem Glauben agiert, zum Wohle der Gruppe zu handeln. Sich bis zum Schluss nicht eingestehen wollend dass ihm die Ereignisse über den Kopf wachsen, nimmt er die Haltung an, wer nicht für ihn sei, sei gegen ihn. Seine Fehler sieht er erst ein, als bereits alles verloren ist und Arthur vor seinen Füßen im Sterben liegt. Dass sich Dutch seiner Fehler bewusst ist, darf man auch daraus schließlich, dass er am Ende des Epilogs den tatsächlichen Verräter erschießt.

https://www.instagram.com/p/BpR6_3-n9TN/

Politischer Kommentar

Es ließe sich überlegen, inwiefern Dutch als charismatischer Verführer (aka Populist), der in den Kampf gegen den Zeitenwandel zieht, ein Kommentar zu den reaktionären Kräften unserer politischen Gegenwart ist. Dazu würde passen, dass Red Dead Redemption 2 zwar den Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung thematisiert, was ein klassisches Motiv des Western-Genres ist, der „Held“, der sonst für seine persönliche Souveränität einsteht, hier jedoch von einem Kollektiv repräsentiert wird.

Eventuell ließe sich auch dieser Aspekt als ein Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen interpretieren, wonach manche reaktionären Kräfte gerne „unter sich“ bleiben würden; ihre selbstdefinierte Gemeinschaft gegenüber der Gesellschaft bevorzugen würden.

https://www.instagram.com/p/BnbYfLwnAyP/

Historischer Kommentar

Unabhängig von einer derartigen Lesart sollte storytechnisch nicht unerwähnt bleiben, dass Dutchs Widerstand zum Ende hin durch den Widerstand des jungen Indianers Eagle Flies gespiegelt wird. Gleichzeitig bilden die beiden Fraktionen van der Linde-Gang/Ureinwohner spiegelverkehrte Pärchen in einer Art Generationenkonflikt: Den beiden Fanatikern Dutch und Eagle Flies (Vaterfigur/Sohn) stehen Arthur und Häuptling Rain Falls (Ziehsohn/Vater) als Stimme der Vernunft gegenüber.

Mit dem Auftritt der Indianer gelingt Red Dead Redemption 2 zudem einen Aspekt der amerikanischen Geschichte anzusprechen, mit dem sich das Western-Genre jahrzehntelang schwer tat. Generell gelingt es dem Spiel, die amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts – z.B. die gesellschaftlichen Folgen des Bürgerkriegs – lebendig darzustellen.

https://www.instagram.com/p/BicT2BNntCf/

Ein Spiel als Erzählmedium

Der vorliegende Text, der Red Dead Redemption 2 als Erzählung würdigen wollte, ist natürlich keine tiefgehende Analyse, sondern letztlich nur eine oberflächliche Aufzählung dessen, was auf narrativer und dramaturgischer Ebene ins Auge fällt. Dennoch dürfte diese Betrachtung einen Eindruck vermitteln, dass Red Dead Redemption 2 durchaus ein interpretationswürdiges Werk ist.

Aber das Narrativ dieses Werkes beschränkt sich nicht nur auf die Haupt- und Nebenmissionen, sondern findet ebenso außerhalb dessen in der Spielwelt statt. Der 4players-Redakteur Jörg Luibl bezeichnet dies als passives Storytelling, wonach es in der offenen Spielwelt Begegnungen abseits der Missionen zu entdecken gibt, die eigene Geschichten und amerikanische Geschichte erzählen. Doch drängen sich diese Episoden nicht auf, sondern eröffnen sich nur den neugierigen und entdeckungsfreudigen Spielern.

Das ist eventuell eine Form des Storytellings, die exklusiv den Games vorbehalten ist. Doch dieser Gedanke würde einer eigenen Betrachtung verdienen.

Bildquellen