Tempolimit: Wo Ulf Poschardt irrt

Rasen ist tödlich. Machen wir Schluss damit, die Folgen des Rasens zu verharmlosen: Wir brauchen eine neue Tempokultur.

Rasen ist tödlich: Noch immer sind Geschwindigkeitsunfälle die häufigste Ursache, weshalb Menschen im deutschen Straßenverkehr sterben oder schwer verletzt werden. Unfälle also, bei denen Fahrer zu schnell unterwegs sind oder ihr Tempo nicht an die konkrete Situation anpassen. Machen wir Schluss damit, die Folgen des Rasens zu verharmlosen: Wir brauchen eine neue Tempokultur.

In der letzten Woche hat der Bundestag es mit großer Mehrheit abgelehnt, eine „allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h auf Bundesautobahnen“ einzuführen. Ich bedaure das sehr. Seit Monaten und Jahren streite ich auf Twitter und Facebook für ein moderates Tempolimit für 150 km/h . Auch, damit vorsichtigeres Fahren auf andere Straßen abfärbt.

Wiederholt musste ich mich dabei mit den Argumenten von Ulf Poschardt auseinandersetzen, Chefredakteur der Welt. Tempolimit-Gegner verlinken mir seine Texte und beleidigen mich mit seinen Argumenten. In ihren Augen bin ich ein Angsthase, ein Fortschrittsgegner, schlimmer noch: ein Gegner demokratischer Freiheitsrechte. Und sie haben keinen Zweifel, dass ich nur deshalb ein Limit befürworte, weil ich sie damit gängeln und bevormunden will.

Die richtige Debatte zum falschen Zeitpunkt

Als am 6. September in der Berliner Invalidenstraße ein Porsche-SUV in eine Gruppe von Fußgängern fuhr und vier Menschen tötete, darunter ein Kleinkind, wurde schnell der Verdacht laut, es habe sich um einen rücksichtslosen Raser gehandelt. Menschen protestierten und forderten unter anderem auch strengere Tempolimits. Es war die richtige Diskussion zum falschen Zeitpunkt. Denn vieles spricht dafür, dass der Fahrer einen epileptischen Anfall erlitt. Und eben nicht einfach schneller an sein Ziel kommen wollte.

Ulf Poschardt war einer der ersten, die, nachdem dies bekannt wurde, die Demonstranten angriffen. „Finde gut, dass niemand versucht einen absolut fürchterlichen Verkehrsunfall für seine Sache zu instrumentalisieren, das ist wirklich vorbildlich“, schrieb er bei Twitter. Die Botschaft war klar: Mit der Forderung nach einem Tempolimit oder weniger Autos in den Innenstädten habe dieser Unfall nichts zu tun. Es sei eine Art außergewöhnliches Ereignis: ein Unglück, hervorgerufen durch eine Abfolge fataler Zufälle und nicht etwa Folge von Raserei oder einer verfehlten Verkehrspolitik.

https://twitter.com/ulfposh/status/1170257794341191681

Was sich in Berlin zugetragen hat, findet auf deutschen Straßen jeden Tag statt. Entgegen Poschardts Behauptung spielt die Geschwindigkeit dabei oft eine Rolle. 1.077 Menschen starben im Jahr 2017 bei Geschwindigkeitsunfällen, so berichtet das Statistische Bundesamt. Das sind pro Tag fast drei. 60.079 Menschen wurden dabei schwer verletzt, pro Stunde fast sieben.

Solche Zahlen erschrecken und machen wütend. Dabei hat die Debatte über Tempolimits einen entscheidenden Fehler. Oft wird sie, gerade auch in den Kommentaren Poschardts, unter dem Aspekt der Eigenverantwortung geführt. Wer zu schnell fährt, gefährdet vor allem sich selbst, handelt auf eigenes Risiko. Das stimmt nicht. Die Unfallstatistik verrät auch, dass dabei fast immer Unbeteiligte zu Schaden kommen. Menschen, die eben nicht rasen. Insassen, die mit im Auto saßen – oder in anderen Autos.

Die Folgen dieser Unfälle sind nicht weniger drastisch als jener in Berlin. Menschen, die lebendig im Auto verbrennen, so entstellt, dass sie nicht zu identifizieren sind. Die aus dem Wrack eines verunfallten Autos geschnitten werden müssen. Die schreien und weinen, qualvoll sterben. Menschen mit eingedrückten Brustkörben und aufgeschlitzten Schädeldecken. Und Angehörige, die trauern. Die häufigste Ursache dieser Unfälle ist, ich wiederhole es: zu schnelles und unangepasstes Tempo. Auf allen Straßen.

„Rasen ist das schönste und verantwortungsvollste!“

Wer Ulf Poschardts Texte zu Tempolimits liest, wird feststellen, dass sie im Tonfall moralischer Entrüstung daherkommen. Der Bürger werde durch Tempolimit-Befürworter „entmündigt“. Es „brauche keine Oberlehrer“, schrieb er schon 2013 in einem Kommentar für die Welt. Er beklagt einen „eifernden Gegenwarts-Pietismus, der in Gestalt der rot-grünen Opposition den Alltag der Menschen mit einem Katechismus umfassend regeln will.“ Sie seien „Entschleunigte“, zerfressen von Neid, die den Fortschritt ausbremsen wollen. Im Umkehrschluss ist schnelles Fahren geradezu Bedingung für individuelles Freiheitsstreben. Er spricht von einem „neuen deutschen Freiheitsekel“.

Amüsant ist das, weil hier ein Journalist mit erhobenem Zeigefinger, manchmal gar verbittert ätzendem Tonfall, das Moralisieren der anderen kritisiert. Poschardt klagt an und predigt. Er unterstellt den Befürwortern des Limits unredliches Handeln, gar schlechte Charaktereigenschaften. Poschardt nennt aber keine Belege. Er kann nicht nachweisen, dass Befürworter eines Tempolimits sich aus Fortschrittsgegnern und Ausbremsern rekrutieren. Er kann nicht beweisen, dass sie – wie er behauptet – Neid auf die Fahrer großer Autos empfinden. Es sind gefühlte Wahrheiten am Rande zum Wutbürger-Journalismus.

Dennoch wiederholt Poschardt in Interviews und Kommentaren die immergleichen Argumente, bis das Hirn einen intellektuellen Ermüdungsbruch erleidet. Dass es durchaus gute Gründe für ein solches Limit gibt, zeigen mehrere Urteile zur Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen. Wer Tempo 200 fährt, reduziert seinen Spielraum, Unfälle zu vermeiden, nahe Null, so stellte etwa das Oberlandesgericht Koblenz fest (12 U 313/13). Er kann nicht mehr auf eigene und fremde Fehler reagieren. Schlimmer noch: Er provoziert andere Menschen zu Fehlern, weil er sie stresst und sie sein Tempo unterschätzen.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt das Oberlandesgericht Nürnberg (13 U 1296/17). Und nennt Daten aus der Unfallforschung: Ein Auto mit Tempo 200 legt in einer Sekunde 55 Meter zurück. Selbst bei trockener Fahrbahn sei der Bremsweg mit rund 275 Metern mehr als doppelt so lang wie bei der Richtgeschwindigkeit mit Tempo 130, wenn das Auto schon nach 125 Metern zum Stehen kommt. Auch die kinetische Energie bei einer Kollision sei viel gewaltiger: Sie beträgt bei 200 km/h mehr als das 2,3-fache gegenüber einer Kollision bei 130 km/h. Im Grunde, so der Schluss, sind solche Kräfte für Menschen nicht beherrschbar, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

Derart schnelles Fahren provoziert Fehler, die bei einem Zusammenstoß fast immer tödlich oder mit einer schweren Verletzung enden – das ist ein Fakt. Dies alles zur notwendigen Folge eines individuellen Freiheitskampfes zu verklären ist nicht nur leichtsinnig. Es ist geradezu infam. Natürlich haben jene ein gutes Recht, die danach fragen, wie derartige Unfälle eingeschränkt werden können. Damit weniger Menschen sterben oder zu Krüppeln gefahren werden. Entgegen Porschardts Behauptung lässt sich die Forderung nach einem Tempolimit sogar mit dem Freiheitsbegriff begründen: Mehr Menschen sollen frei sein von der Not und dem Leid, das aus diesen Unfällen resultiert.

Es bedarf einer neuen Tempokultur

An dieser Stelle sei auf einen zweiten dunklen Fleck in der aktuellen Tempolimit-Debatte verwiesen. Nicht nur wird sie auf die Frage nach der Eigenverantwortung des Fahrers oder der Fahrerin eingeengt. Sie wird auch einseitig mit Blick auf die Autobahnen geführt. Die Unfallstatistik aber verrät: nicht nur dort wird gerast, sondern auch auf Landstraßen. Auch hier passen die Fahrer nicht ihr Tempo an. Auch hier sind Geschwindigkeitsunfälle häufigste Todesursache: Hier sterben sogar noch mehr Menschen daran als auf Autobahnen. Wer von der A9 herunterfährt, fährt ja nicht automatisch langsamer und vorsichtiger.

Es bedarf folglich mehr als eines strikteren Tempolimits auf Autobahnen. Es bedarf eines Bewusstseinswandels: einer anderen Fahrkultur, egal auf welcher Straße. Das Bewusstsein nämlich, dass hohes Tempo gefährlich ist, im Zweifel tödlich.

Warum sich gerade in Deutschland die Idee durchsetzen konnte, unbegrenztes Tempo bedeute Freiheit, wurde schon mehrfach erörtert. Das Auto stand in Zeiten des Wirtschaftswunders, nach dem Zusammenbruch des 2. Weltkrieges, für Wohlstand und Ungebundenheit. Und tatsächlich für neu gewonnene Freiheiten. Wurden im Jahr 1949 noch Treibstoffe rationiert und war die Republik eine Trümmerlandschaft, so konnte sich schon Mitte der 50er Jahre viele Deutsche ein Auto kaufen, um damit nach Italien in den Urlaub zu fahren oder durch neu aufgebaute Städte.

Mobilität stand nun nicht mehr für Flucht und Vertreibung, den schnellsten Weg in den Bombenkeller. Sondern für Freizeit und wochenendliche Ausfahrten, auch für neue Arbeitsplätze. Opel Olympia, Ford Taunus und VW Käfer: Sie waren im wortwörtlichen Sinn wichtige Motoren von Deutschlands Wiederaufstieg zur Wirtschaftsmacht, zumindest in den alten Bundesländern. In der DDR war der private PKW ein Luxusobjekt, von wenigen besessen: mehr als zehn Jahre dauerte es im Mängelland, ein solches Fahrzeug erwerben zu dürfen. Zumindest, wenn man nicht privilegiert und ein hohes Parteimitglied war. Auch hier bedeutete das Auto Sehnsucht und Hoffen auf Freiheit.

All das kann man auch in den Texten Ulf Poschardts nachlesen. „Der Porsche 911 ist ein einzigartiges Symbol für die grenzenlose Sehnsucht nach absoluter Überschreitung“, heißt es etwa über das Buch, welches er über den 1963 erstmals gebauten Wagen schrieb. Das Problem: Nirgendwo hinterfragt und problematisiert er die deutsche Autokultur, so wissend er auch darüber zu berichten weiß. Er feiert sie, im Zweifel ideologisch. Er akzeptiert ein PS-starkes Gefährt als Bedingung für deutschen Wohlstand, immer wieder. Hier schreibt ein Fan schneller Autos für andere Fans. Was fehlt, ist kritisches Abwägen und journalistische Distanz.

Schnelles Tempo im Auto ist nicht harmlos

Darf man einen Publizisten wie Ulf Poschardt mitverantwortlich dafür machen, wenn Menschen wegen Raserei im Straßenverkehr sterben? Bei Twitter hat er sich mehrfach gegen derartige Vorwürfe verbittert verwehrt. Ich denke: ja, man darf es. Er verharmlost die Folgen des Rasens. Er ermutigt mit seinen Texten gerade dazu. Er verklärt schnelles Fahren als Bedingung für individuelle Freiheit und demokratische Grundwerte.

Ja, die Zahl der tödlichen Unfälle und schweren Verletzungen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten zurückgegangen. Aber sie hätte mit Sicherheit stärker zurückgehen können, wenn es ein anderes Bewusstsein für Geschwindigkeiten gegeben hätte. Es ist nur ein Baustein für weniger Unfälle, neben der Verbesserung der Fahrzeugtechnik und einer besseren Infrastruktur. Aber ein wichtiger.

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