Geteilte Leben, doppeltes Leid
Sophie Hardachs Roman Unser geteilter Sommer ist eine Geschichte über eine Familie, die von Mauer, Teilung und Stasi zerrissen wurde. Ein ungemein starkes und wichtiges Buch, findet Martin Spieß.
Es beginnt 1987, mit dem Moment, der die gesamte Geschichte bestimmen wird: dem Fluchtversuch. „Ich griff nach der Hand meiner Mutter und folgte ihr in die Wiese hinein“, so lautet der letzte Satz des Prologs.
Dann ist plötzlich das Jahr 2010. Ella – eine der beiden Erzähler*innen von Unser geteilter Sommer – ist eine Mittzwanzigerin, die in London auf einem verlassenen Fischkutter lebt. Eigentlich ist sie Künstlerin, schlägt sich aber als Putzfrau durch. Und sie schleppt die Folgen jener Nacht – oder besser gesagt: der Umstände – auf ihren Schultern: Die Flucht nämlich scheitert, Ellas Mutter landet im Gefängnis Höhenschönhausen und Ella sowie ihr Bruder Tobi kommen zu den Großeltern. Heiko, der jüngste Bruder, verschwindet – unter Druck zur Adoption freigegeben.
Keine Freude beim Blick in den Abgrund
Und weil sie diese Last nicht länger erträgt, macht Ella sich auf nach Berlin, um ihrem Bruder nachzuspüren – obwohl ihre mittlerweile verstorbene Mutter ihr das Versprechen abnahm, nicht weiter nach ihm zu suchen.
In Berlin lernt Ella Aaron kennen, den zweiten Erzähler: einen jungen Engländer, der ein Praktikum in einem Archiv macht, das geschredderte Akten wieder zusammensetzt, um sie ehemaligen DDR-Bürger*innen zugänglich zu machen, die von der Stasi oder IMs (den sogenannten „inoffiziellen Mitarbeitern“, also ganz normalen Bürger*innen) bespitzelt wurden.
Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach Akten, nach Unterlagen, nach Hinweisen – eine mühsame Arbeit, nicht nur, weil es schwierig ist, entsprechende Aufzeichnungen zu finden. Es ist vor allem eine psychische Belastung, in diese Abgründe zu schauen.
Ella nimmt schließlich sogar Kontakt zu ehemaligen Wärterinnen oder Verhöroffizieren auf, und zuweilen ist die Lektüre beinahe unerträglich, so unbeteiligt und schuldlos geben sich diese Menschen. Sie hätten ja nur ihren Job gemacht. Die „Republikflüchtlinge“ hätten gewusst, was sie tun: Sie hätten gegen das Gesetz verstoßen, und wer das tut, dürfe sich nicht wundern, wenn er oder sie bestraft würde.
Sachlich und mitreißend, ungerührt sowie rührend
Sophie Hardach – und ihre Übersetzerin Ulrike Sterblich – treffen den Ton dieser Distanziertheit und Gefühllosigkeit perfekt. Die Kälte, die von den Figuren ausgeht, die das Leben von Ella, Tobi und ihrer Mutter ruiniert haben, ist schwer auszuhalten. Der Sound ist gleichzeitig sachlich wie mitreißend, seltsam ungerührt wie rührend zugleich. Vielleicht bewirkt gerade dieser (zuweilen) so zurückgenommene Stil, dass die Geschichte so viel unmittelbarer wird.
Hardach entwirft dabei das Bild einer Familie, die es im Vergleich zu anderen Menschen in der DDR zwar guthatte – beide Eltern sind Kunsthistoriker*innen an einer Berliner Uni –, die aber dennoch unfrei ist. Wie soll man auch atmen in einem System, in dem es nicht genug Luft gibt und genau dieser Mangel an Luft Absicht ist? Wenn auf die „falschen“ Ausstellungen zu gehen oder „Westspielzeug“ zu haben bedeutet, dass man unter Beobachtung gerät?
„Das ist die Partei“
Dass es auch innerhalb der Familie Reibungen gibt, macht es nicht einfacher: Ellas Oma ist glühende Kommunistin, war wegen ihrer politischen Einstellung im KZ Buchenwald, und verteidigt die DDR, egal, wie weit die offensichtlichen Ungerechtigkeiten auch reichen. Ihre Parteifreunde wären entsetzt, wenn sie von den Schikanen der Stasi wüssten, sagt sie in einem Gespräch, das Ella belauscht, zu ihrem Mann. Und der erwidert: „Du meinst, in der Partei weiß man nichts davon? Das ist die Partei, Trude.“
Sophie Hardach erzählt mit Unser geteilter Sommer eine packende Geschichte und zeichnet ein schockierendes Bild davon, wie der Überwachungsstaat mit Stasi und IMs Familien auseinandergerissen und zerstört hat. Es ist eine Meister*innenleistung, dass man sich bei der Lektüre all des Unrechts immer wieder regelrecht ohnmächtig fühlt – und das ist nur eine der vielen Stärken dieses fantastischen Romans.