Schämen für die Scham
Marco Ott hat bei Edition W seinen schlicht großartig zu nennenden Debütroman Was ich zurückließ vorgelegt. Martin Spieß hat ihn gelesen und ist begeistert.
Kommen wir gleich zum Punkt: Marco Ott, der derzeit Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim studiert, hat mit Was ich zurückließ ein ungemein intensives Debüt geschrieben. In Briefform und auf nur 124 Seiten schreibt ein Sohn an seine Arbeiterklasse-Eltern und versucht, die Entfremdung zu überwinden, die zwischen ihnen stattgefunden hat.
In unaufgeregtem Ton erzählt Ott von der Reise, zu der er beziehungsweise sein Protagonist aufbricht, um sich zu lösen von der Angst seiner Eltern und dem Druck des Systems, den sie (sogar körperlich) zu spüren bekommen (haben). Immer wieder wird ihm, der es erst als Filmemacher, dann als Fotograf und schließlich als Autor versucht, gespiegelt: Er solle doch lieber etwas Handfestes machen, eine Ausbildung, etwas Vernünftiges. Sicherheit: das A und O.
Sicherheit: das A und O
Und es beginnt bereits in seiner Kindheit und Jugend. Er will nicht, dass Freund*innen ihn bei sich zu Hause besuchen, weil er in einer Sozialbausiedlung lebt. Er wartet in einer Straße mit Einfamilienhäusern, wenn Freunde ihn mit dem Auto abholen. Er beobachtet einen Mitschüler, wie der ein billiges Getränk in eine Markenflasche umfüllt.
Sport und Hobbys, all das wird nur oder zumindest auch mit dem Hintergedanken betrieben, das irgendwann vielleicht zum Beruf zu machen. Es raus zu schaffen aus der Geldnot, aus der Abhängigkeit, und Sorgen und Stigmatisierungen hinter sich zu lassen.
Jahre später erzählt er einer Maklerin bei der Wohnungssuche, sein Vater sei Anwalt, nur um bessere Karten zu haben. Stück für Stück entfernt er sich von seinen Eltern, von seiner Herkunft, die er abzustreifen versucht wie ein unliebsames Kleidungsstück – nur um am Ende festzustellen, dass er sich schämt: „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.“
Eine „leise Wucht“
Es ist mindestens frustrierend, wenn nicht sogar eine Farce, dass Herkunft und Stallgeruch immer noch so viel bedeuten in Arbeitswelt und sozialen Zirkeln. Marco Ott vermag eben diese Umstände so eindringlich in Worte zu fassen, dass die Lektüre beinahe körperlich wehtut. Dabei wird es nie laut oder krawallig. Stille und Unaufgeregtheit erzeugen eine „leise Wucht“, wie es Olivier David, Autor von Keine Aufstiegsgeschichte, in seinem Blurb schreibt. Dem kann man sich nur anschließen und dem Buch viele Leser*innen wünschen. Denn was Ott mit Was ich zurückließ zurückgelassen hat, ist ein unglaublich starkes Debüt.
Marco Ott:Was ich zurück ließ
Edition W, 2024
124 Seiten, 20 Euro