Brillanter Blick in den Abgrund
Zehn Jahre sind seit dem letzten Roman von Frank Göhre ins Land gegangen. Aber das Warten hat sich gelohnt: Mit Verdammte Liebe Amsterdam hat Göhre ein fantastisches Buch vorgelegt. Martin Spieß hat es gelesen.
Anfangs muten sie ja schon irgendwie klischeehaft an, die Szenerien in Frank Göhres neuem Roman: korrupte Bullen, ein verschwundenes Mädchen, Rotlichtmilieu gleich in mehreren Städten und zwei entfremdete Brüder, von denen einer tot ist und der andere diesem Tod auf den Grund geht. Aber da ist nichts Klischeehaftes an Verdammte Liebe Amsterdam, im Gegenteil.
Trauer, Tod und Hass
Schorsch, der eigentlich Georg heißt, hat schon lange nichts mehr mit seinem Bruder Michael, der nur Mike genannt wird, zu tun, als er die Nachricht erhält, dass Mike tot ist: seine Leiche liegt mit eingeschlagenen Schädel auf einem Autobahnrastplatz. Schorsch, der in Hamburg auf dem Kiez ein Restaurant betreibt, begibt sich nun auf die Suche nach dem Warum. Schnell kommt heraus: Mike hat die 15-jährige Suse gesucht, im Auftrag ihrer Mutter Martina. Schorsch folgt den Spuren und landet schließlich im Rotlichtmilieu Amsterdams. Zwischen Schorschs Ermittlungen, Suses Erlebnissen in Amsterdam und Martinas Sorgen schneidet Göhre Rückblicke vor allem in die Jugend der beiden Brüder: die Trauer um den Tod der Mutter, das schlechte Verhältnis zum Vater, vor allem aber den Hass auf die neue Partnerin des Vaters, die schließlich ums Leben kommt. Und man erfährt, dass die Jungs das gleiche Mädchen geliebt und beide etwas mit ihr gehabt haben: Jutta, die auch in der Gegenwart wiederauftaucht und für Schwierigkeiten sorgt.
Rastlos und rauschhaft
Göhres Sprache ist karg, da ist nirgendwo ein Wort zu viel in Verdammte Liebe Amsterdam. Der Roman ist schnell geschnitten, die Dialoge sind filmisch verknappt. Wer mit Göhres Werk vertraut ist, kennt ihn (unter vielem anderen!) als Drehbuchautor von St. Pauli Nacht, dieser großartigen (von Sönke Wortmann verfilmten) Kiezgeschichte. Dreckig, rau und hart geht es auch in Göhres neuestem Roman zu: man riecht den Rauch der Zigaretten, das Blut schmeckt nach Eisen, die Leser*innen-Rippen schmerzen, nachdem Schorsch verprügelt wurde, und die Eingeweide ziehen sich stärker und stärker zusammen, je mehr man über die Hintergründe von Suses Verschwinden erfährt. Der Blick in den Abgrund gelingt Göhre dabei so brillant, dass man bei all der Schwärze immer wieder den Impuls verspürt, das Buch zur Seite zu legen, weil es einen so sehr packt, dass es wehtut. Unnötig zu erwähnen, dass man Verdammte Liebe Amsterdam, dieses rastlosen, rauschhafte Roadmovie, trotz all seiner Schwere und Dunkelheit nicht weglegen kann. Und ebenso unnötig zu erwähnen, dass der Roman bereits jetzt einer der stärksten des Jahres 2020 ist.
Frank Göhre: Verdammte Liebe Amsterdam
CulturBooks Verlag, März 2020
Klappenbroschur, 168 Seiten, 15 Euro