Corona ernst nehmen
Die Deutschen nehmen die Corona-Krise nach wie vor nicht ernst (genug). Das muss sich dringend ändern. Ein Kommentar von Martin Spieß.
Als ich am vergangenen Samstagabend (dem 14. März) in meinem Supermarkt war, bekam ich zum ersten Mal mit, dass die Deutschen zu hamstern begonnen hatten. Eine Kundin sagte mir, sie sei schon im vierten Supermarkt und nirgendwo gebe es Kartoffeln. Sie fragte eine Verkäuferin, ob es Klopapier gebe, woraufhin die antwortete: „Der war gut.“ Dann erzählte sie, dass das Klopapier, das morgens geliefert worden war, innerhalb von zwanzig Minuten ausverkauft war. Gestern (Donnerstag, 19. März) erzählte eine Drogerie-Mitarbeiterin, dass die Kund*innen morgens nicht mal gewartet hatten, bis das Klopapier in die Regale gefüllt wurde, sondern es direkt von der Palette runternahmen. Nach sechs Minuten war es alle. (Sechs. Fucking. Minuten! Wo lagern die Leute das nur alles?)
Die dünne Decke der Zivilisation
Wie dünn die Decke der Zivilisation ist, das kann man in diesem März des Jahres 2020 (nicht nur) in Deutschland erleben. Solidarität? „Solange ich Nudeln und Klopapier habe, sind mir die anderen egal“, scheint das Kaufverhalten der Hamster*innen zu sagen. Und das – auch schon vor der Ansprache der Kanzlerin am Mittwochabend – viel beschworene Social Distancing? Pustekuchen.
„Menschen sitzen in (größeren) Gruppen in Grünanlagen und Parks, man wolle doch das schöne Wetter genießen, man wolle sich nicht verrückt machen (lassen). Dass man damit Risikogruppen, aber auch sich selbst gefährdet? „Who cares?“, scheint das Verhalten der Menschen zu sagen, derentwegen es unausweichlich scheint, dass in absehbarer Zeit auch in Deutschland eine Ausgangssperre kommt.
Was, frage ich mich, muss noch passieren, damit die Deutschen die Situation ernst nehmen? Wenn Bomben fallen würden, wenn die Innenstädte in Schutt und Asche lägen und Militär und Milizen sich Straßenschlachten lieferten – wer würde sich da mit Freund*innen auf eine Picknickdecke setzen, weil das Wetter so schön ist?“
Der Vergleich hinkt natürlich nicht nur, ihm fehlen sogar die Beine. Dennoch hat die Kanzlerin nicht unrecht, wenn sie sagt, dass dies für Deutschland die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist.
„Jeder Vierte meint, das alles sei Panikmache“
Und die vom Robert-Koch-Institut vermeldeten Zahlen vom heutigen Samstag (21. März, 10 Uhr) sprechen eine deutliche Sprache: in Deutschland gibt es 16.662 Fälle, das sind 2.705 mehr als am Vortag. Lothar H. Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, zitierte in einer Pressekonferenz am gestrigen Freitag eine Umfrage des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche bitkom: „Trotz aller Appelle sind die Leute immer noch nicht bereit, ihre Sozialkontakte zu reduzieren. Jeder Vierte meint, das alles sei Panikmache.“
Viele Deutsche erkennen offenbar nicht, wie schlimm diese Krise ist. Man solle sich das Leben auch nicht nehmen lassen, sagt eine junge Berlinerin, deren Freundin ein Prosecco-Glas in der Hand hält, in einem Beitrag des rbb24 vom 19. März. Und ein Mann von vielleicht Mitte 60 sagt, er fände, da werde „zu sehr ins Leben eingegriffen“.
Augen öffnen vor dieser Realität
Vielleicht muss Wieler solcher (und ähnlicher) Haltungen wegen in der gestrigen Pressekonferenz so deutlich betonen: „Ich möchte, dass Sie den Ernst der Lage auch alle begreifen. (…) Wir können diese Epidemie nur verlangsamen, wenn wir uns an die Spielregeln halten: Distanzierung. Abstand halten. (…) Wenn es immer noch Menschen in unserem Land gibt, die das für Panikmache halten, kann ich sie nur auffordern, endlich die Augen zu öffnen vor dieser Realität.“
In Freiburg tritt heute eine eingeschränkte Ausgangssperre in Kraft: ein Betretungsverbot für öffentliche Orte. Und ebenfalls ab heute sollen laut Ministerpräsident Markus Söder in ganz Bayern „grundlegende Ausgangsbeschränkungen“ gelten.
Sich an die Spielregeln halten, ob es um das Unterlassen von Hamsterkäufen oder die drastische Reduktion von Sozialkontakten geht, das können oder wollen die Deutschen anscheinend (noch) nicht. Allein, wenn das so weiter geht, kommt das dicke Ende noch. Und es wird verdammt dick werden.