Darksiders 2 oder: Die 1000 Tode des Todes
Sterben. Respawnen. Weitermachen. Warum der Tod in Spielen nichts als Scheitern ist, der Abgrund der schlimmste Gegner und die 1000 nur eine Zahl.
Tod, die Figur, fällt in irgendeinen Abgrund. Ich male einen Strich auf meinen Zettel. Der tausendste Tod, vermute ich, wird kaum besser als der neunhunderneunundneunzigste. Aber an dem Punkt bin ich noch lange nicht. Ich bin an dem Punkt, an dem ich mich und meine große Klappe verfluche. „Wäre es nicht lustig“, schrieb ich, so oder so ähnlich, als ich diesen Artikel vorschlug, „wenn ich in einem Spiel tausend mal sterbe? So ein Selbstversuch?“ Ich springe. Tod fällt. Meistens stirbt Tod nicht an den Gegnern. Er stirbt, weil ich irgendeinen Sprung nicht schaffe. Ich seufze. Noch ein Strich auf der Liste.
Ich habe mich für Darksiders 2 entschieden, weil man dort den Tod spielt. Ich mag den Witz. Ich gehe enthusiastisch an die Sache ran und schaffe schon während des Tutorials zwei Falltode. Wenn Tod stirbt, verpufft seine körperliche Form zur – so heißt es im Spiel – „Reaper-Form“, ein ätherisches blau-lila Horrorfilmwesen mit eigenartigem Gesicht. Und kurz danach steht Tod in seiner körperlichen Form wieder da, und alles geht von vorne los.
Jason Tocci nennt in seinem Aufsatz You Are Dead. Continue? den Tod eines Charakters im Spiel eine „narrative disruption“, etwas, das den Spieler aus der Geschichte des Spiels herausreißt, weil es nicht zu Geschichte passt. Der Charaktertod ist oft der Punkt, an dem die Regeln des Spiels und seine Story in Konflikt geraten. Nichts in, sagen wir, Doom, erklärt uns, warum der Space Marine am letzten Speicherpunkt neu starten darf. Nichts in in Super Mario erklärt uns, warum dieser eigenartige Klempner – explizit konzipiert als eine Figur wie du und ich – mehrere Leben haben darf. Das ist ein Storytelling-Problem, manche Spiele lösen es auch als Storytelling-Problem, manche davon mit der ganz großen Axt namens „Permadeath“. Bei den meisten aber ist der Charaktertod mit anschließendem „Continue“ eine storyfremde Sache der Spielmechanik. In dieser Hinsicht ist Darksiders 2, obwohl es mir vorher nicht klar war, eine gute Wahl. Tod stirbt nicht, wenn er zum x-ten Mal in die Lava fällt, er ist halt Tod. Apokalyptischer Reiter. Der älteste der Nephilim. Tod scheitert nur. Und steht auf. Und macht weiter. Wie man es von einem guten apokalyptischen Reiter erwartet.
Continue bis zum Sieg über den Tod
„Death in games generally has nothing to do with death. It’s a lie based on a creative inability to communicate player failure in a more honest way“, schreibt Michael Thomsen in einem Artikel für IGN. „[Death]“, schreibt er weiter, „is the only universal truth we have. We should have it honestly and bracingly, in games as in anything else, if only we’re brave enough to look at it directly and claim it as our own.“ Während ich Tod – die antropomorphisierte Version dieser universellen Wahrheit – vorsichtig über ein Lavafeld in Richtung einer Schatztruhe manöviere, wird mir klar, dass ich genau dieser Lüge aufgesessen bin: Was ich am Anfang sterben genannt habe, ist nur vorübergehendes Scheitern. „Tod“ und „Scheitern“ sind austauschbar.
Ich springe. Tod fällt in die Lava. Verpufft zur „Reaper-Form“. Und steht sofort wieder da, am Rand des Lavafeldes.
Ich muss, wenn ich ans Scheitern denke, immer an eine Videoinstallation denken, ich ich mal gesehen habe. Ich weiß nicht mehr von wem sie war, es ging um einen Mann, der an einem windigen Tag versucht, einen Fahnenmast aufzustellen. Der Mast war viel zu groß für ihn, der Wind war zu stark, man konnte in stundenlang dabei beobachten, wie er immer wieder neue Ansätze und Ideen fand, seine Aufgabe zu bewältigen. Er scheiterte immer und immer wieder. Aber er hörte nicht auf. Als jemand, der sich viel mit unmöglichen Sprüngen und Bosskämpfen aufgehalten hat, konnte ich das sofort nachvollziehen. You are dead. Continue? Aber ja. Immer. Bis ich über die Lavafelder nicht nur springe, sondern tanze, bis meine Finger ihre Aufgabe automatisch tun. Bis ich den Tod, das Scheitern, besiegt habe. Falls das geht.
Sterben heißt, in eine Zeitschleife zu geraten
Tod reitet auf einem Feld einem riesigen Steinmonster entgegen. Ich hab keine Ahnung, wie ich es besiegen soll, meine Waffen sind nutzlos, nützliche Tipps gibt es nicht. Egal. Meine Aufgabe ist es, möglichst oft zu sterben. Tod stürzt sich in den Kampf. Das Steinmonster tötet ihn fast sofort. Ich führe keine Strichliste mehr, ich finde heraus, dass das Spiel seine eigene Liste führt. Es differenziert zwischen Umgebungstoden und Kampftoden. Mein Ding sind die Umgebungstode. Die kann ich gut.
Tod materialisiert sich wieder. Reitet wieder dem Steinmonster entgegen. Das, was das Spiel „Tod“ nennt ist in Wirklichkeit Zeit. Wenn Tod stirbt, bleibt die Zeit stehen, wird zurückgedreht, und es geht wieder von vorne los. Sterben heißt, in eine Zeitschleife zu geraten. Tod ist Stillstand. Stillstand ist Tod.
Es gibt diese künstliche Intelligenz namens MarI/O, die gelernt hat, Super Mario World zu spielen. Man kann ihr in einem Video dabei zusehen. Sie beginnt langsam: Erst passiert gar nichts. Dann steuert sie Mario nach rechts, solange, bis er auf den ersten Gegner trifft. Beim nächsten Durchgang springt sie über den Gegner und landet kurz danach in einem Loch. Und so weiter. Mit jedem Charaktertod wird MarI/O besser, lernt, auszuweichen, zu reagieren. Und am Ende des Videos spielt sie besser als jeder Speedrunner. Das ist Charaktertod: Die Möglichkeit, es bei nächsten Mal besser zu machen. Scheitern, ja, in einer endlosen Zeitschleife gefangen sein, ja, aber auch: Diese Zeitschleife zu durchbrechen, zu erweitern. Im Idealfall bis es nicht mehr geht. Bis die Zeitschleife – Blase? – so groß ist wie das Spielfeld. In den besten Spielen gelingt das nie, man wird in immer wieder neue Schleifen geworfen. In den besten Spielen stirbt man unendlich oft, weil jeder Charaktertod heißt, dass man ein kleines Stück weiter gekommen ist. Wenn man MarI/O zuschaut, hat Sterben nichts mit Scheitern zu tun, im Gegenteil. Mit jedem Charaktertod baut die künstliche Intelligenz neue Neuronen auf, neue Möglichkeiten zu agieren. „Genetische Algorithmen“, nennt sich das.
Nur eine holprige Metapher
Ich lasse Tod wieder auf das Steinmonster zureiten. Ich muss sterben, die Tausend sind noch lange nicht voll, deshalb spiele ich aggressiver. Normalerweise würde ich defensiv spielen, mit Langstreckenwaffen, weitreichenden Zaubern, dicken Rüstungen und großzügigen Heiltrankvorräten antreten. In Darksiders 2 habe ich Tod auf offensiv getrimmt, meine Rüstungen haben keine guten Verteidigungswerte, dafür aber Angriffswerte. Meine sämtlichen Zauber bewirken einfach nur, dass Tod sich wie ein Bekloppter auf seine Gegner stürzt. In größere Gegneransammlungen lasse ich ihn einfach reinspringen, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit. Ich benutzte die Kurzstreckenwaffen, ich lasse die Doppelsense und den hochgejazzten Hammer kreisen. Das funktioniert erstaunlich oft. Der Charaktertod lässt sich so leicht nicht herausfordern, wie ich dachte. Ich muss an MarI/O denken, während Tod das Steinmonster mit seinen eigenen Bomben zu Fall bringt, daran herumklettert und die Sensen in irgendeinen magischen Kristall rammt. Jeder Charaktertod eine neue neuronale Vernetzung in meinem Hirn. Der Unterschied ist, dass MarI/O den Controller nicht frustriert in die Ecke wirft, wenn etwas nicht klappt. Aber sonst funktionieren wir ähnlich.
„Video Games have gradually turned death, the most (only?) influential and thought-provoking aspect of human existence, into a nearly-unexamined cliché“, schreibt Joe Bernardi in Hopes & Fears. Das ist sicherlich richtig, weil Charaktertod nichts Mysteriöses, nicht Unerklärliches hat. Es ist ja kein Tod. Sondern eben nur diese holprige, einfach einzusetzende Metapher für Scheitern, was wiederum nichts anderes bedeutet als: Ich lerne, das Spiel zu meistern. Was sich unterscheidet, ist der Wert des Scheiterns. In der alten Nintendo-Schule, in der es drei Leben gab und dann Schluss war, hatte der Tod einen anderen Wert als in Darksiders 2, in dem Tod einfach unendlich respawnt, ein Permadeath hat einen anderen Wert als ein Charakterod, der mit dem Verlust von Goldmünzen oder Items bestraft wird.
Der Wert des Todes
Irgendwann fällt auch das Steinmonster. Meine Statistik verzeichnet, trotz meiner aggressiven, offensiven Spielmethode, kaum hundert Tode. Das Steinmonster hat die Zahl der Kampftode etwas hoch getrieben, aber das alles ist noch lange nicht genug. Ich habe es aufgegeben, absichtlich zu sterben, nur um die Tausend vollzukriegen. Tod in Abgründe stürzen, in die er nicht stürzen müsste. Ihn von Gegnern töten zu lassen, die er problemlos niedermähen könnte. Das hieße, den Charaktertod seines Wertes zu berauben. Nicht zu scheitern, nicht zu lernen, keine neuen neuronalen Verbindungen aufzubauen, sondern nur die Zeit endlos anzuhalten um eine abstrakte Zahl hochzutreiben, nur das Spiel als Selbstzweck umzudrehen. Dagegen sträubt sich etwas in mir, es kommt mir sinnlos vor, sinnloser jedenfalls, als im Rahmen der Erzählung zu sterben. Meine „narrative disruption“ mache ich mir nicht auch noch selber, vielen Dank auch.
Der Wert eines Charaktertodes, könnte man versuchsweise behaupten, bemisst sich an dem, was was zwischen diesem Tod und dem davor passiert ist – am Fortschritt im Spiel, an dem, was der Spieler gelernt hat. Der Wert eines Charaktertodes, oder, weniger hoch gehängt: die Antwort auf die Frage: „Hat es sich gelohnt, schon wieder zu sterben? Bin ich weitergekommen?“, bemisst sich an der erzählten und erlebten Distanz zwischen dem einen Charaktertod und dem nächsten. Dem Charakterleben, also.
The Castle Doctrine von, natürlich, Jason Rohrer hatte einen Server, auf dem ein interssanter Versuch durchgeführt wurde: Auf dem Server kann das Spiel nur einmal gespielt werden und nach dem ersten Charaktertod nie wieder – nicht Permadeath, sondern Perma-Permadeath. Upsilon Curcuit verspricht etwas ähnliches, nur als Show mit Zuschauern für jeweils acht Spieler. One Life möchte das Konzept in ein postapokalyptisches MMO übertragen. „Experience the Only True Survival“, lautet die Tagline des Spiels, weiter: „Are you ready to face the most intense and authentic experience in your life?“.
Scheitern und Tod wären in einem solchen Spiel tatsächlich gleichbedeutend, die Erzählung vom Tod wäre keine, die eigentlich vom Scheitern und neuen Versuchen erzählt. Sondern tatsächlich versucht, wie Michael Thomsen es in der IGN fordert, mutig genug ist, den Tod direkt anzusehen und sich seiner anzunehmen. Der Charaktertod hätte in einem solchen Spiel keinen Wert – er könnte schlicht nicht beziffert werden, weil nichts danach kommt. Der Tod würde nicht eine neue Chance bedeuten, etwas besser zu machen. Das Charakterleben hätte einen unendlichen Wert, so lange es andauert, der Tod täte weh. Der Würde der Spielfigur ist unantastbar, und die Todesmechanik frustrierend wie das Leben selbst.
So lange ich ein solches Spiel nicht spiele, so lange Tod in Darksiders 2 immer und immer wieder respawnt, so lange selbst „Permadeath“ oft nur heißt, dass ich eine etwas längere Strecke zurücklegen muss, um wieder da anzukommen, wo ich war oder mit einer anderen Figur weiterspielen muss, ist er Begriff „Tod“ in digitalen Spielen nur eine leere Hülse ohne Gewicht. Das falsche Wort, für das, was da passiert. Mein Selbstversuch wird sinnlos, weil ich mit den falschen Begriffen arbeite.
Das Steinmonster ist gefallen, und ich könnte weitermachen, Tod in den nächsten und wieder den nächsten Dungeon schicken, Tods Weg ist frei. Aber ich stecke in einer Sackgasse. Bin ich tausend Mal gestorben? Nicht ein einziges Mal, weil es unmöglich ist. Bin ich tausend mal gescheitert? Nur ein einziges Mal: Daran, zu sterben.
Ich lasse Tod weiter reiten, sein Pferd heißt Verzweiflung, und es geht schneller, wenn man darauf reitet. Irgendwann kommt ein Abgrund, und Tod und Verzweiflung wirbeln hinein. Kurz Zeit später stehen beide wieder da, unversehrt.
Ich schalte die Konsole aus.
(c) WASD Magazin, 10/16
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