Der Stille eine Stimme geben

Der Fotograf Michael Wallmüller hat mit Still einen Bildband über Betreiber*innen von Gasträumen in Zeiten von Corona herausgebracht. Martin Spieß hat ihn sich angesehen.

Dass Corona besonders die Kulturbranche sehr hart getroffen hat, das muss man (mit Ausnahme der Politik) beileibe niemandem ernstlich mehr sagen. Es gibt seit über einem Jahr keine Veranstaltungen und Konzerte mehr, Kino und Theater sind geschlossen, genau wie Clubs, Bars, Restaurants und sonstige Gaststätten. Eine Welt, in der es um menschliches Miteinander geht, steht still.

Resignation, aber auch Trotz

Still – so heißt auch der Bildband des hannoverschen Fotografen Michael Wallmüller, der dafür 66 Orte in Hannover aufsuchte, die aufgrund der Corona-Bestimmungen die Türen schließen mussten. Wallmüller hat darin die Betreiber*innen von kleinen und großen Bühnen, von Bars, Restaurants, Cafés, Veranstaltungsfirmen und Schwimmbädern in ihrer natürlichen Umgebung porträtiert. Natürlich allerdings ist diese Umgebung keinesfalls: Es fehlen die Gäste. Die Gasträume sind bis auf die Porträtierten leer. Mit Ausnahme einiger im Freien oder an Fensterfronten entstandener Bilder ist das Licht gedämpft, es sieht beinahe aus, als kämen gleich die ersten Gäste. Die aber gibt es nicht. Es bleiben nur die beinahe gespenstischen Räume selbst – und die, die sonst dafür sorgen, sie mit Leben zu füllen, die jetzt aber beinahe verloren, hilflos wirken. Auf ihren Gesichtern kann man Resignation sehen, aber auch Entschlossenheit. Auf fast allen aber sieht man Müdigkeit, und man ertappt sich während des Betrachtens bei der Frage, ob die metaphorische Müdigkeit schlimmer ist als die nach einer langen Nacht mit Gästen.

Hannover, 20.11.2020: Portrait aus der Serie „Still“: Enzo, Betreiber der Rumpelkammer am Lister Platz. Michael Wallmüler dokumentiert mit der Portraitserie den Stillstand an Orten, die für soziales Miteinander stehen. Die Betreibenden sind durch den so genannten Wellenbrecher-Lockdown Ihrer Aufgabe als Gastgeber enthoben.

Räume ihrer Funktion beraubt

Aber wie gesagt: Gäste gibt es keine, weil es keine geben darf. Und diese Tristesse atmen Wallmüllers Fotos förmlich. Dass die Bilder alle von Gasträumen in Hannover sind, spielt keine Rolle: sie könnten egal wo in Deutschland sein. Überall sind derartige Räume gerade ihrer eigentlichen Funktionen beraubt. Hier sollen Menschen zusammenkommen, einander begegnen, Musik machen und hören, (Theater) spielen, Filme schauen, reden, essen, trinken, feiern, tanzen, sich streiten – und so weiter. Sie sind nicht dafür gemacht, leer zu stehen. Das fordert nicht nur finanziellen Tribut, sondern auch psychischen, vor allem die Menschen betreffend, die diese Räume für gewöhnlich betreiben. Die große Stärke von Still (das übrigens über ein Crowdfunding realisiert wurde): Michael Wallmüller hält nicht die Kamera auf Trauer und Tragik, sondern inszeniert das Fehlen gesellschaftlichen Miteinanders eindringlich und mitreißend, gleichzeitig aber unaufdringlich – und gibt all jenen eine Stimme, die Corona ihrer Lebensgrundlage beraubt hat. Die große Hoffnung ist, dass eben diese Stimme gehört wird, und dass das Leben bald wieder zurückkehren darf.

Still. Portraits im Gastraum
Fotodokumentation von Michael Walmüller
Mook Books 2021, ca. 140 Seiten
ISBN: 978-3-98515-042-7
Mehr unter: michaelwallmueller.com/still