Der Weg des Assassinen

Ständig ploppen Benachrichtigungen auf, ständig blinken auf der Karte die Aufträge. Was passiert, wenn man die bessere Welt einfach mal links liegen lässt und sich die Freiheit nimmt, ziellos zu sein? Ein Text über eine Frau im roten Kleid, Venedig im Sommer die Handys in der Bahn.

Morgens greife ich als erstes zum Handy. Ich stelle den Wecker aus. Ich starre, noch groggy, vor dem ersten Kaffee, voll von den Träumen der Nacht, auf die Benachrichtigungen, die Emails, Facebook, Twitter, die Instant-Messenger, den Kalender. Ich sortiere das, was der Tag von mir erwartet. Noch bevor ich richtig wach bin, jagen Daten durch mich hindurch, ich werde zur Schnittstelle von Kommunikationen, habe ich Aufgaben, Termine, Ideen, ich bin noch da, aber präsent.

Als die Verfolger abgeschüttelt sind, hält der Assassine inne. Steht auf einem Platz, irgendwo in diesem Irrgarten aus Kanälen und Brücken namens Venedig. Da ist eine Kirche, deren Namen er nicht kennt, da sind Menschen, Figuren, die vorbeilaufen, von irgendwo nach irgendwo, manche schauen ihn schräg von der Seite an, als sei er ihnen verdächtig, manche ignorieren ihn, als hätten sie zu tun, ein Barde beginnt zu singen, der Assassine wirft ein wenig Geld, damit er aufhört. Unten links blinken schwarze Punkte auf der Karte. Auftragsmorde, Rennen, Schlägereien, die große, wichtige Mission. Kein Stillstand für den Assassinen, für eine bessere Welt.
Eine Frau in einem roten Kleid läuft vorbei.

Der erste Blick auf mein Handy, der Blick morgens, ist eigentlich ein langer Blick, nur die Bildschirme wechseln im Laufe des Tages. Ich kommuniziere, ich kuratiere, ich teile. Ich bin ein fleißiges Bienchen, das Benachrichtigungen abarbeitet, jede kleine 1, die irgendwo aufploppt, Storyquests, Sidequests, kleine Möglichkeiten. Ich sammle Netznektar und verteile ihn. Wohin? Keine Ahnung. Warum? Keine Ahnung. Mein letzter Blick, abends, übrigens: Auf mein Handy. Nur nochmal schnell durchscrollen.

Der Assassine beschließt, die Möglichkeit einer besseren Welt zu ignorieren. Die ganzen kleinen, schwarzen Punkte, diese Symbole des Weges, den er im Spiel gehen muss, einfach blinken zu lassen. Er hechtet der Frau im roten Kleid hinterher, die schon ein Stück weit weg ist, weiter hinten, Richtung Canale Grande. Vor einer Brücke holt er sie ein, er steht dicht hinter ihr, sie blickt sich einmal um, ihm direkt in die Augen. Dann geht sie weiter.

Manche Dinge merkt man ja gar nicht, wenn man die ganze Zeit ein Datenhub ist. Dass man einer ist, zum Beispiel. Natürlich tippe ich in Bahn auf dem Handy rum. Ist ja praktisch. Noch schnell eine Mail beantworten. Noch schnell irgendwas kommentieren. Noch schnell was für abends organisieren, Freizeit ist wichtig. Noch schnell die unglaublichen Möglichkeiten dieses Gerätes in meiner Tasche nutzen. Alles andere wäre ja Quatsch. Selbstbestimmt? Fremdbestimmt? Die Frage stellt sich ja gar nicht. Das Device ist eine Verlängerung von mir. Ich bin das Device, das Device ist ich. Das Device hilft mir, meine Pflicht zu erfüllen.

Die Frau im roten Kleid geht langsam, der Assassine ist das nicht gewohnt. Er kann in Gebäude rennen, alle Soldaten dort töten, und wieder rausrennen. Schnell, ungesehen. Er kann über die Dächer der italienischen Renaissancestädte klettern, bis auf die Türme der höchsten Kirchen. Er kann Aufträge erfüllen, schnell und effektiv die blinkenden, schwarzen Punkte auf seiner Karte abarbeiten. Die Frau im roten Kleid schleicht durch die Stadt. Hält an an. Blickt sich um. Stellt sich an einem Gemüsestand an, eine geschlagene halbe Stunde lang, die Schlange bewegt sich nicht, der Assassine steht hinter ihr und wartet. Blickt hinaus auf die Lagune. Ich sitze vor dem Fernseher, und sehe dem Assassinen beim Warten zu.

Es gibt diese Momente. Diese Momente, wenn die Welt sich öffnet. Hoch oben, über den Dächern von Venedig, wenn einem klar wird, dass man alles machen könnte, den Sonnenuntergang betrachten, mit einer Gondel durch die Kanäle schippern, auf den Campanile klettern und dort die Adler beobachten. Solche Dinge passieren, solche Dinge kann man machen.
Ich schaue der Frau im roten Kleid dabei zu, wie sie an diesem Gemüsestand wartet, geduldig, obwohl es kein Stück vorwärts geht. Selbstverständlich flattert die Aufmerksamkeit. Ich schaue der Lagune beim Glitzern zu. Ich betrachte die Schatten auf den Ornamenten der Gebäude. Der Assassine klettert kurz auf ein Gebäude und lässt sich wieder fallen.

Es ist schwer, sich dem Datenhub-Sein zu verweigern. Das Handy nicht mitzunehmen, den Computer auszuschalten, Benachrichtigungen einfach mal Benachrichtigungen sein zu lassen, die Karte mit ihren aufgeregt blinkenden Symbolen dafür, dass es etwas zu tun gibt, zu ignorieren. Sich Aufzulehnen gegen die Pflicht, etwas aus sich machen, jetzt, sofort. Die Nutzlosigkeit, die Sinnlosigkeit zu zelebrieren. Das System, das ständig etwas verlangt, links liegen zu lassen.

Nach einer halben Stunde, einer Stunde vielleicht, jedenfalls ist die Dämmerung schon fortgeschritten, geht die Frau im roten Kleid weiter. Sie hat nichts eingekauft. Der Assassine folgt ihr, durch enge Gassen, über beeindruckende Plätze, Orte, an denen er nie vorher war, oder an die er sich einfach nicht erinnert. Sie geht, als hätte sie ein Ziel, eine Stunde lang, zwei Stunden lang, einfach immer weiter durch die Gassen. Manchmal bleibt sie stehen, dann lasse ich die Kamera um den Assassinen herumfahren, versuche herauszufinden, wo ich bin, die Frau im roten Kleid dreht sich zu mir um, ich bilde mir ein, dass sie lächelt, vielleicht lächelt sie den Assassinen an, vielleicht mich, durch den Bildschirm, sie läuft weiter, bevor ich herausfinden kann, wo wir eigentlich sind.

Je offener die Welt ist, je mehr man merkt, dass sie offen ist, desto eher kann man sich die Freiheit nehmen, gar nichts zu tun. Wie lange habe ich mich schon nicht mehr so richtig verlaufen? Wie lange ist es her, dass ich keine Möglichkeit hatte nachzuschauen, wo ich eigentlich lang muss? Wie lange ist es hier, dass ich ziellos durch eine Stadt gelaufen bin, von der ich nichts kannte als den Namen? Ich schaue dem Assassinen zu, wie er läuft, ich steuere ihn der Frau im roten Kleid hinterher, enge mein Blickfeld auf sie ein, ich sehe kaum etwas anderes.

Die Frau im roten Kleid hat kein Zuhause, jedenfalls keines, das wir irgendwann erreichen würden, sie hat kein Ziel, sie läuft einfach immer weiter durch Venedig, unendlich, vielleicht, hätte die Stadt ein Herz, wäre sie vermutlich dorthin unterwegs, aber sie ist einfach nur unterwegs, nirgendwohin. Der Assassine folgt ihr, um jede Straßenecke auf dem Weg nach nirgends. So lange, bis er sie verliert. Sanglos. Klanglos. Der Platz ist eng, die Figuren drücken sich dicht an dicht. Die Frau im roten Kleid läuft hindurch, der Assassine versucht, ihr zu folgen und stolpert. Rollt durch eine Menge, die Figuren starren im nach. Er rappelt sich auf, schaut sich um, von dem engen Platz führen vier Gassen weg, der Assassine sucht zufällig eine aus. Die falsche. Er steht alleine in der Gasse, ich lasse die Kamera um ihn rotieren, die Frau im roten Kleid wandert weiter, irgendwo. Und auf der Karte blinken die Aufträge.

(c) WASD Magazin, 08/15

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