Deutsche Ängste: Zeitumstellung

Wenig scheint Deutschland so sehr in Angst und Schrecken zu versetzen wie die halbjährliche Zeitumstellung. Warum?, fragt sich Merlin Schumacher.

Spüren Sie sie? Diese Desorientierung? Man weiß kaum noch wo man ist, wie man heißt und wie spät es ist! Es muss eine fundamentale Veränderung in unserer Realität gegeben haben. Es gab eine Zeitverschiebung! Sei es eine Stunde, eine Sekunde oder – Gott bewahre – ein Jetlag!

Wenig bringt den Deutschen so sehr um den Schlaf wie der Beginn der Winterzeit. Tagelang wird in allen Zeitungen ausführlich darauf hingewiesen, man möge doch das Uhrumstellen nicht vergessen. Weltnachrichten müssen warten wenn aus MESZ MEZ wird – oder umgekehrt.

Wieviel Leid das Deutsche Reich seinen Töchtern und Söhnen bereiten würde, als es 1916 als Vorreiter die Sommerzeit vorschrieb, war wohl keinem bewusst. Energiesparen war damals die Begründung für das Zeitgesetz. Ein Vorhaben, das erfolglos blieb, gar das Gegenteil bewirkte.

Keine Zeitumstellung, die nicht von hysterischen Protesten gegen die hochkomplizierte Praxis begleitet wird. Immerhin sterben jedes Jahr Millionen Deutsche an vewirrtem Biorhytmus. Vögel fallen tot vom Himmel, weil die Kirchturmuhr 60 Minuten früher oder später schlägt. Die Toten werden auferstehen und die Lebenden werden sie beneiden. Es wird Schwefel und Feuer regnen!

Wovor der Deutsche Michel sich dabei fürchtet ist dabei nicht so ganz klar. Ist es die Angst am Sonntag zu verschlafen? Will er, dass die Sonne erst kurz vor Mitternacht untergeht? Fürchtet er Schaden am Binnenhandel? Und was sagt eigentlich der Markt dazu? Es scheint eine diffuse Angst zu sein, und diffuse Ängste werden gerne auf Flächen projiziert, die neu scheinen. Unsere neuste Projektionsfläche ist Technik. Mit dem schrecklichen Debakel um Y2K haben wir gelernt: Der Technik sollten wir unsere Zeit nicht anvertrauen! Keines der fantastischen Schreckensszenarien, die wir uns so schön ausgedacht haben ist geschehen. Kein Radiowecker explodiert, kein Toaster der Bewusstsein erlangte, kein Flugzeug auf Vatis Volkswagen gefallen. Enttäuschend.

Wenn alle drei Jahre eine Schaltsekunde ansteht, um die Erde wieder an die Atomuhren der Physikalisch Technischen Bundesanstalt anzugleichen, darf sich wieder gefürchtet werden. Computer könnten abstürzen, Daten könnten verloren gehen, WLAN-Router könnten mehr Strom verbrauchen. Kurzum: Die Apokalypse steht bevor. Am nächsten Morgen erwacht der Bundesbürger, verkatert wie nach der Sylvesterparty, um festzustellen, dass nichts passiert ist.

Um sicher zu gehen, dass man nicht ganz alleine im verwirrenden Taumel durch die Sommerzeit gefangen ist, wird in den Tagen nach der Umstellung bei jeder Erwähnung die Phrase „Eigentlich ist es erst…“ vom Stapel gelassen. Die Phrase ist das Mantra der kollektiven Rückversicherung der Tatsache, dass es die „richtige Zeit“ – die Winterzeit – noch gibt.

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