Die Toten kommen: Monopol im Aktionsgeschäft

Lieber ohne Bastelbogen, leise und subtil: Thomas Kaestle, Experte für Kunst im öffentlichen Raum, darüber, dass Kritik am Zentrum für Politische Schönheit einsam machen kann. Und warum trotz öffentlichem Diskurs Dialoge unter Gleichgesinnten zur Zeit eher verstummen.

Jetzt noch über das Zentrum für Politische Schönheit schreiben? Nachdem alle großen Medien über die aktuelle Aktion Die Toten kommen berichtet haben (siehe u. a. Pressespiegel auf der verlinkten Seite). Und danach die Berichte kommentiert. Und dann die Kommentare kommentiert. Nachdem die sozialen Netzwerke überquellen mit Relativierungsversuchen und Rechtfertigungsattacken. Nachdem mir die ersten Menschen ihre facebook-Freundschaft gekündigt haben, entrüstet über noch die vorsichtigsten Kontextualisierungsversuche.

Vermutlich nicht mehr und nicht weniger als eine Formsache. Denn in der Regel geht es um die Form. Wer würde schon wagen, die Inhalte zu hinterfragen? Tatsächlich kenne ich niemanden persönlich (ältere Verwandte ausgenommen), der nicht bereits davon überzeugt wäre, dass die europäische – und damit auch die deutsche (oder andersherum) – Flüchtlingspolitik unerträglich, die Festung Europa ethisch untragbar ist. Das gilt vermutlich sogar für den einzigen CDU-Politiker, mit dem ich befreundet bin: ein Lokalpolitiker aus dem Vogtland, der mit seinen sympathisch schrägen Ansichten ohnehin in der falschen Partei festhängt. Das Thema der Nationalstaatlichkeit, meiner Meinung nach der Kern aller Abschottungsideologien, wird ja in Die Toten kommen eher gestreift. Darüber ließe sich auch in meinem Umfeld streiten. Mit dem CDU-Politiker. Aber auch mit all den Fußballfans unter meinen Freunden, die sich während internationaler Meisterschaften regelmäßig den nationalistischen Mobs anschließen. Aber so geht es eben um die Form. Um das Verhältnis von Mittel und Zweck, um Stil und Geschmack, um Ästhetik und Kommunikation.

Selbstinszenierungen

Auch über die Form von Texten, die sich mit dem ZPS und seinen Aktionen auseinandersetzen, wurde bereits ausgiebig gestritten. Was ist angemessen, was erlaubt, was abwegig? Als ich am 11. Dezember 2014 Philipp Ruch, der als künstlerischer Leiter des ZPS auftritt, zum ersten Mal bei einer Podiumsdikussion erlebte, einer Veranstaltung in der Hildesheimer @cetera-Reihe, von und für Studierende, hätte ich danach beinahe eine Theaterrezension geschrieben. So sicher war ich mir, dass jede Geste dieses Auftritts inszeniert war. Und Ruch bezeichnete das ZPS selbst mehrfach als freie Theaterproduktion mit ganz konventioneller Funktionsweise. Wer es als Aktionskünstler mit einem solchen Portfolio schafft, dass ihn die fast Hälfte der anwesenden Kulturwissenschafts-Studierenden hinterher für ein aufgeblasenes Arschloch hält, der hat sich vorher genau überlegt, wie er das erreichen kann.

Nach dem Auftritt von Ruchs Kollegen John Kurtz, André Leipold und Fabian Eggers bei der Tagung  Artist Organisations International im Berliner HAU vom 9. bis 11. Januar 2015 hätte ich eine wirtschaftsjournalistische Einordnung ihrer Strategien als Werbeagentur verfasst. Hätte über Branding geschrieben und über Corporate Identity, über ziel- und selbstsichere Kommunikation und deren Misslingen in einem Raum voller kopfschüttelnder internationaler Kunstaktivisten. Diese Zuhörer, die in ihren jeweiligen Herkunftsländern oft Verhaftung und Schlimmeres riskieren, hatten wenig Verständnis für die satten deutschen Aktionsdesigner, die sich für ihren smarten Ungehorsam selbst feierten und sogar mit der offenbar kalkulierten Ablehnung hochzufrieden schienen (was ja nicht schwer ist, wenn Widersprüchlichkeit und Unliebsamkeit zum Konzept gehören).

Als Gutachter für Kunst in öffentlichen Räumen könnte ich außerdem über das kollektive Ausheben symbolischer Grabstätten als dezentrale, partizipatorische Rauminstallation schreiben. Und als jemand, der sich im privaten Umfeld lange mit Religion und ihrer Kritik beschäftigt hat, könnte ich mir Gedanken darüber machen, warum diese Gräber als Metapher vor allem dann funktionieren, wenn sie mit Holzkreuzen auf die so genannte christlich-abendländische Kultur referieren, die viele der Aktionisten gerne überwinden würden. Als Kunstvermittler könnte ich versuchen, einen Assoziationsraum zu konstruieren, in dem die losen thematischen Enden der Aktion sicht- und damit vielleicht greifbar werden, eine Konstruktionshilfe für die Unverständigen, Anknüpfungspunkte in ihrem eigenen Alltag zu finden. Und als (Kultur-)Journalist wäre es vermutlich eine verdiente Leistung, die bislang veröffentlichten Meinungen zu kategorisieren, miteinander zu verknüpfen, Argumentations- und Denkmodelle zu durchleuchten, Ästhetik und Konzept der Aktion an sorgfältig entwickelten Kriterien zu messen.

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Blühende Landschaften in Europa

Tatsächlich aber interessieren mich vor allem die ganz persönlich erlebten Wirkungen der Aktion. Die durch das ZPS bewusst gesetzten, mehr aber noch die durch bestimmte Haltungen ausgelösten (Nach-)Wirkungen. Mich interessiert, wie eine solche Aktion die heterogene Gesamtheit potentieller (Polit-)Kulturschaffender und Aktionisten, kritisch und kreativ denkender und handelnder Bürger, so schnell und gründlich zu polarisieren vermag. Ein guter Freund, den ich als Künstler und Mensch sehr schätze, postete heute auf facebook:

„Wenn mein politisches Künstlerumfeld auch nur einen Teil der Energie in echte politische Arbeit oder Kunst stecken würde, die sie in die Diskussion von Form und Ästhetik der politischen Arbeit anderer Künstlergruppen stecken, hätten wir bald anstelle von Grenzen blühende Landschaften in Europa.“

Er bringt damit einen Großteil der meist aufgebrachten Reaktionen jener auf den Punkt, die sich vorrangig am Erfolg der Aktion orientieren und jede Kritik an formalen Details als unangebracht zurückweisen. Die sich beeindruckt von der Leistung zeigen, in einer zweistufigen Aktion zunächst mit der Beisetzung auf dem Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge auf Berliner Friedhöfen das Thema zu etablieren. Um dann gezielt mit einer partizipatorischen Inszenierung den Rezipienten die Möglichkeit zu bieten, sich persönlich einzubringen, sich durch ihr Handeln zu identifizieren, selbst innerhalb eines klar abgesteckten ästhetischen Rahmens mitzugestalten.

Die Handlungsanweisung für den Flashmob der Rasenaufreißer und Grabstättensimulierer war simpel und effektiv. Sie war mit genug Ästhetik aufgeladen, sowohl im Gestaltungsspielraum des eigenen Handlungsfeldes als auch im erzeugten symbolstarken Gesamtbild eines Friedhofs vor dem Reichstag. Und sie bot den Tausenden akquirierter Aktivisten die Möglichkeit, sich als Akteure eben jener „politischen Schönheit“ zu fühlen, die das ZPS im Namen trägt. Die Berliner Protestierenden durften sich schön fühlen in ihrem inszenierten Ungehorsam. Und Dutzende in ganz Deutschland und darüber hinaus taten es ihnen nach. Die Aktion verselbständigte sich, der präsentierte Bastelbogen funktionierte perfekt. Ganz im Sinne der Präsentation des ZPS bei der erwähnten Tagung im HAU. Dort sprachen die Vertreter der Gruppe davon, „fact creators“ zu sein: „We want to enable others to awaken.“

Marketing und Skrupellosigkeit

Die meisten ernstzunehmenden Medien erkennen diesen Erfolg an, die entstandene positive Öffentlichkeit für die Aktion ist groß. (Von Boulevardmedien oder reaktionären Publikationen soll hier erst gar nicht die Rede sein.) Im zweiten und dritten Reflexionsanlauf begannen einige dann aber doch, genauer hinzusehen, wie das ZPS die Aktion kommuniziert, welche Haltung der Urheber wiederum welche Haltungen bei den Teilnehmern hervorruft. Hannah Beitzer kann dafür exemplarisch mit ihrem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung stehen. Darin schreibt sie:

„Warum überhaupt musste das ZPS sich so selbstgewiss als Tabubrecher und Deutschlandaufwecker inszenieren? Die Künstler hätten sich einfach auf ihre in der Tat sehr schöne Grundidee konzentrieren können: Menschen, die an den Grenzen Europas gestorben sind, im Herzen des Kontinents zu beerdigen. Ohne Hashtags, ohne öffentliches Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, ohne demonstrativ aufgebaute Ehrentribüne für abwesende Politiker, ohne prägnant formulierte Schuldzuweisungen samt Rücktrittsforderungen, ohne das ständige Sich-Selbst-Abfeiern im Netz. Das wäre immer noch spektakulär gewesen und hätte zudem tatsächlich Raum zum Nachdenken gelassen – weil es die einzig wahre und richtige Interpretation der Aktion nicht gleich mitgeliefert hätte. So aber heiligt nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel schaden dem Zweck.“

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Tatsächlich funktioniert das ZPS in diesem Fall wiederum wie eine Marketingagentur, die eine aggressive Kampagne entwickelt, inklusive etwas zu aufdringlicher Formulierungen und inszenierter Effekthaschereien. Zum größten Teil handelt es sich um Strategien, die auch schon aus früheren Aktionen bekannt sind. So werden gerne Verbote, Regeln und Einschränkungen des Staates und seiner Vertreter vorgeführt, die für sich genommen vollkommen selbstverständlich sind. Wir dürfen nicht mit Leichen durch Berlin ziehen? Skandal! Da sieht man mal wieder den Staat und seine willkürliche Gängelei! Gerne werden eher unspektakuläre Behördenschreiben, die ganz einfach dem Schema F geltender Gesetze folgen, im Internet gezeigt, um visuelle Aufreger produzieren zu können.

Ähnlich plakativ-durchschaubar sind die meisten Postings und Tweets des ZPS in den sozialen Netzwerken – Einpeitscher für die richtige Proteststimmung der Rezipienten. Das wäre verzeihbar als irgendwie lästiger Bestandteil fast jeder großen öffentlichen Aktion. Es sind Vorhersehbarkeit und Durchschaubarkeit, von denen sich viele für dumm verkauft vorkommen. Und die Skrupellosigkeit, mit der jedem Kritiker das Wort im Munde verkehrt wird. Dazu passt die Reaktion der Titanic auf Hannah Beitzers Artikel, als wäre sie lanciert worden. Der Text ist seines Mediums kaum würdig, scheint erst gar nicht geistreich sein zu wollen, und versucht, Beitzer zu diskreditieren, indem er äußerst schlicht Originalzitate und ein gefühltes, stupides „So ein Quatsch“ aneinanderreiht. Ich zumindest kann mich hier des Eindrucks billiger Propaganda nicht erwehren.

Es ist vermutlich dieses Gefühl von Propaganda und Instrumentalisierung, das vielen Kritikern der Mittel des ZPS sauer aufstößt. „In der Krise der Vorstellungskraft kann Kunst erreichen, was Journalismus glaubt, nicht zu dürfen“, sagte Ruch im Dezember 2014 in Hildesheim. Möglicherweise ist das aber gar keine Frage von gefühltem Dürfen, sondern eher eine von Wollen. Unabhängig vom Kontext geht es doch vielleicht eher um eine ethische Selbstverpflichtung: Wo setze ich die Grenzen zwischen Journalismus und Propaganda? Nun scheint allerdings das ZPS Propaganda als Mittel von künstlerischem Aktivismus keinesfalls abzulehnen. Ebensowenig wie – streng kalkulierte – Gesetzesüberschreitungen. Natürlich nicht, ohne sie akribisch zu dokumentieren und zu veröffentlichen.

Weiße Rose und Otto Dix

Das ist es vor allem auch, womit sich Philip Ruch lautstark von anderen Kulturschaffenden und Aktivisten abgrenzt. In Hildesheim kippte er gleich einen ganzen Kübel Häme und Verachtung über amnesty international aus, stellte die etablierten Menschenrechtsaktivisten als zahnlose Ablasshändler dar, vor allem, weil sie die Strategie verfolgen, immer im Rahmen der jeweiligen Landesgesetze zu handeln. amnesty geht seit Jahrzehnten einen leisen, subtilen, aber stetigen und geraden Weg. Für das ZPS jedoch scheint alles, was andere machen, ohnehin minderwertig, angepasst, korrupt, bedeutungslos oder unsichtbar. Die Gruppe setzt auf Alleinstellungsmerkmale als Teil ihrer Corporate Identity. Sie macht sich mit ganz großen Gesten unangreifbar und unhinterfragbar: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Damit gelingt es ihr, treue Anhänger hinter sich zu scharen, die ihr wie einem Messias folgen und auf jede Art von Kritik äußerst empfindlich reagieren. Auch wenn die Inhalte diametral entgegengesetzt sein mögen – solche Strategien erinnern bisweilen unangenehm an die simplen Tricks, mit denen Pegida & Co. Kritik an sich abprallen lassen. Inklusive der Stigmatisierung kritischer Pressevertreter. Beide Gruppen setzen auf den treuen Mob, beide prägen totalitäre Strukturen aus.

Der Anspruch des ZPS ist schließlich kein geringer. Man möchte in die Geschichtsbücher eingehen. Wie einst die Weiße Rose, mit der sich Ruch in Hildesheim ausführlich und ungeniert verglich. Er wolle zur repräsentativen Illustration dessen werden, was seine Zeit prägt: „Wir wollen der Otto Dix des 21. Jahrhunderts werden.“ Wer so sehr darauf bedacht ist, sich im Sinne der guten Sache ins rechte Bild zu setzen, der läuft eben manchmal Gefahr, vor lauter Bildern die Sache zu vergessen. Vor allem lohnt es sich, nach der Zielgruppe solcher Bildproduktion zu fragen. Das ZPS stilisiert sich erfolgreich zu Helden jener, die ohnehin schon längst ihrer Meinung waren. Die unbestritten positive Öffentlichkeit rekrutiert sich fast ausschließlich aus bereits Überzeugten. Zumal ja inzwischen fast jeder eine Meinung zur Flüchtlingsproblematik hat, auch wenn sie vorurteilsbeladen sein mag. Ich bezweifle allerdings, dass spontan im aufgebrochenen Pflaster einer Stadt angelegte symbolische Grabstätten in der Lage sind, einen von der BILD aufgehetzten Asylgegner zum Nachdenken zu bringen.

Die Toten kommen dient vielmehr zur Selbstvergewisserung einer überschaubaren Szene von potentiellen Menschenrechtsaktivisten, die in ihrer Frustration nach den plakativen Strohhalmen des ZPS greifen. Das will wie oben zitiert „erwecken“. Nur wen? Doch eher die, die bereits mit seinem „Wachturm“ an den Ecken stehen. Es ginge darum, „das große Selbstgespräch der Gesellschaft in Gang zu setzten“, schwärmte Ruch in Hildesheim. Doch das Ergebnis ist im aktuellen Fall eher einer seiner Monologe, dem alle lauschen. Jene Kulturschaffenden und Aktivisten, die ihn dafür anbeten, separieren sich dabei deutlich von den Zweiflern, den Zauderern, jenen, die gerne genauer hinschauen und nicht jedes Mittel heiligen wollen. So kommt eher ein Dialog zum Verstummen.

Ich begrüße die Aktion des ZPS, doch, immer noch. Aber ich habe größtes Unbehagen bei ihrer Präsentation und Vermarktung. Bei ihrem Absolutheitsanspruch, ihren Polarisierungen, ihren Doktrinen. Ihrer Unhinterfragbarkeit und ihrer Großspurigkeit. Entgegen der oben zitierten Meinung eines Freundes auf facebook plädiere ich dafür, noch mehr Energie in die Reflexion von Strategien, Formaten und Mitteln zu stecken. Kleine, subtile, differenzierte und leise Aktionen und Initiativen genauso ernst zu nehmen wie die alles überstrahlenden. Ich wünsche mir weniger schillernde Führergestalten in totalitärer Großpose und mehr differenziert, divers und dezentral denkende und handelnde Menschen, die sich trauen, das eigene Tun kritisch zu reflektieren, um es stetig zu verbessern. Unabhängig von Medienrummel, Posen und einer blind folgenden Anhängerschaft.

Ich wünsche mir Menschen, die es schaffen, mit leisen, subtilen, schlauen Projekten auch nur eine Handvoll jener zu überzeugen, die nicht längst ihrer Meinung sind. Es ist keinesfalls so, dass es diese Projekte nicht gibt. Alleine aus eigenem Erleben könnte ich Dutzende Festivals, Tagungen, bildende und darstellende Künstler aufzählen, die sich alle innerhalb der letzten Monate produktiv mit den Themen um Flucht und Asyl, Willkommenskultur, Nationalismus und Menschenwürde auseinandergesetzt haben. Eine dieser Tagungen habe ich sogar selbst moderiert. Sie alle zu nennen und zu verlinken, würde jedoch bedeuten, wiederum Beispiele herauszugreifen, die für eine noch viel größere Diversität stehen. Stattdessen fordere ich dazu auf, solche Aktionen und Projekte im eigenen Umfeld zu suchen, die Augen offen zu halten, mit Menschen darüber zu reden. Und gerne auch selbst aktiv zu werden: Es gibt genügend unterstützenswerte Initiativen. Oder Rahmensetzungen für eigene Ideen. Das mag ohne Bastelbogen manchmal schwieriger sein. Aber ich behaupte: intensiver.

Bildquellen

  • 11541167_10155707992385285_1734414242_n: Judith Westphal
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