Du siehst das tote Kind nicht. Du siehst ein Bild eines toten Kindes.
Das Bild des toten Kindes am Strand wühlte die Gemüter auf. Aber es verstellte auch den Blick auf das, was dahinter liegt. Martin Pleiß mit dem Versuch einer Einordnung.
Dass hier jemand mit den Gewohnheiten unserer Wahrnehmung brechen möchte, war sofort klar, als das Foto eines leblosen Körpers auf unsere Timelines gespült wurde. Was folgte, ist noch immer eine Erfolgsstory: Ein Bild, das über seinen buchstäblichen Inhalt hinaus wuchs und zu einem ikonographischen Ereignis wurde. In so mancher Berliner Werbeagentur dürfte man angesichts dieser viralen Schlagkraft den Hut gezogen haben. Unzählige Male wurde es von großen Zeitungen und Plattformen veröffentlicht, über seine Veröffentlichungen aus ethischer Sicht diskutiert und danach wieder auf alle soziale Netzwerke getrieben, zur weiteren Ausschlachtung. Es wurde zum Symbol für Gutmenschen-Heuchelei bei den Einen und zur offiziellen Fahne der Solidarität für Andere, die zu Millionen ihre Karma-Punkte wieder schönklicken wollen . Und jetzt, ein paar Tage später, scheint alles dazu gesagt zu sein? Nein, so einfach kommen wir damit nicht davon.
Bilder sind Schlachtfelder
Man kann die Meinungen über Abbildungen, wie das des dreijährigen syrischen Flüchtlings, im Groben unter zwei Strömungen zusammen fassen. Die Chefredaktion der Tagesschau etwa sieht die Sache so, dass es “diese Bilder [braucht], um zu verstehen, aus welchen Situationen Menschen als Kriegsflüchtlinge zu uns kommen”. Anders gesagt: Die Realität der Situation kann erst begreifbar werden, wenn wir konkrete Individuen sehen und Beziehungen zu ihnen aufbauen. Worte und Zahlen allein reichen nicht aus.
Dem gegenüber steht die Ansicht, dass es moralische Grenzen gibt, die nicht ohne Grund regulieren wie wir über bestimmte Teile dieser Realität reden dürfen. Dazu gehören zum Beispiel der deutsche Pressekodex oder religiös-kulturell verhandelte Sitten. Die größte Befürchtung auf deren Seite: Dass die Würde der abgebildeten Opfer verletzt wird, ohne dabei einen echten Effekt zu erzielen.
Viele Menschen argumentieren, sie würden diese Bilder nicht sehen wollen, da sie dadurch innerlich abstumpfen. Das ist die viel zitierte These, dass Krieg und Gewalt in den Nachrichten uns gewalt- und leidtoleranter machen. Ein Freund fragte neulich polemisch (aber zu Recht): Was wären solche Bilder in einer Welt noch wert, in der sich Menschen vor unserer Haustür in Brand setzen müssen, um Aufmerksamkeit zu erhalten? Spielen wir damit den Menschen in die Hände, die behaupten, sie könnten uns nur noch durch Amokläufe oder brennende Flüchtlingsheime erreichen?
Klar ist: Wir haben es hier mit einem echten Dilemma zu tun. Es gibt keinen pauschalen Kurs, der uns in sichere Gewässer bringt, sondern in jeder Richtung erwarten uns die Untiefen der Wirklichkeit. Es bleibt nichts anderes, als einen Kurs fest zu legen, der trotz seiner Ausrichtung auf ein klares Ziel die Wahrscheinlichkeit für Fehler so weit wie möglich minimiert und sich danach mit all den Gefahren auf seinem Weg auseinandersetzen – aktiv, jeden Tag, bei jeder seiner Entscheidungen. Tun die Medien das?
Man muss dabei anerkennen, dass es technisch und emotional extrem schwierig ist, Bilder zu erschaffen und zu veröffentlichen, die Kriegs- und Krisensituationen verständlich machen. Daneben ist aber auch noch etwas anderes wahr: Es ist prinzipiell unmöglich, unparteiisch zu bleiben. Bei Objektivität handelt sich um einen ethischen Anspruch, wie er etwa vom Presserat Deutschlands vertreten wird. Das heißt, guter Journalismus sollte immer Objektivität anstreben. Aber erreichen wird dieses Ziel niemand, es bleibt ein Ideal. Objektivät ist so auch nicht wirklich als konkrete Messlatte für einzelne Veröffentlichungen geeignet.
Zu Sehen verändert alles
Wir haben deshalb eine eigene Verpflichtung, denn nicht andere sollten für uns entscheiden, was wir sehen müssen oder glauben können. Das war auch nie Teil der Abmachung – du gehst wählen, also hast du dich auch zu informieren und eine Meinung zu bilden. Du hast weder ein Recht auf Beschönigung der Welt, noch darauf, mitentscheiden zu dürfen über etwas, von dem du keine Ahnung hast. So zumindest war einmal die Idee der bürgerlichen Gesellschaft – damals, als man sich die Retweets noch in Teehäusern gegenseitig vor die Stirn klatschte.
Damals waren Zeitungen zum größten Teil Gossenblätter mit sensationellen Meldungen, die am Straßenrand unter lautem Geschrei verkauft wurden. Dort wo Journalismus an objektive Ansprüche und komplexe Zusammenhänge ausgerichtet war, wurde er nur für eine sehr kleine und gebildete Gruppe von Menschen betrieben. Es hat nie einen Feuilleton für den kleinen Mann gegeben und auch keine harten und komplexen Hintergrundberichte im Groschenkino, als dort noch Nachrichten im Vorprogramm kamen. Dass Bilder sachlich sind, lässt sich sowieso historisch auf keinen Fall verteidigen. Sie hatten schon immer die Funktion, Menschen emotional zu berühren und von einem Weltbild zu überzeugen. Man muss dafür einfach mal in ein Museum schauen oder – noch besser – in eine Kirche. Aber auch Journalismus will Aufmerksamkeit, überall. Auch dieser Artikel hier. Journalismus produziert für Zielgruppen beziehungsweise deren Interessen und Weltbilder; wobei die Schreiber oft selbst dieser Zielgruppe angehören. Er ist voller kultureller Scheuklappen, finanzieller Notwendigkeiten und nicht zuletzt medialer Bestimmtheiten.
Vor allem letztere sind gerade wieder im Wandel: Massenmedien wie Fernsehen oder Radio hatten einen eigenen Bedeutungskosmos geschaffen, eine eigene Dynamik. Jetzt diffundiert diese Dynamik in unser geliebtes Netz und wir sind keine reinen Konsumenten, keine Opfer mehr. Wir haben den alten Medien eine neue Welt gebaut und leben selbst Aufmerksamkeitsstrukturen vor. Jede Handlung, jeder Klick wird ausgewertet und immer wenn wir etwas teilen, übernehmen wir die redaktionelle Arbeit der alten Welt. Sind wir dafür kompetent genug? Warum müssen wir alles kommentieren? Warum ist eine Meinung mit vielen Likes wichtiger als eine, die zu lang war, um von vielen gelesen zu werden?
Es ist symptomatisch, wie das Bild des toten Kindes verwendet wurde: Schlagzeilen wie „Um dieses Kind trauert ganz Deutschland“ (BZ) inklusive privaten Fotos aus dem Elternhaus oder der so zynische wie dumme Versuch der BILD, ihre eigene Identität in Frage zu stellen sind nur die Spitze des Eisbergs. Fast nirgends wurde mehr aus dem Foto als Clickbait, bei dem das Bild der einzige Inhalt einer Meldung ist und alles andere drumherum billige Ausrede. Was solche Bilder verlangen ist Kontext und Aufklärung. Warum konnte dieses Kind nicht mit dem Flugzeug reisen, obwohl es viel billiger gewesen wäre? Welche Gesetze, welche politischen Willen zwingen Flüchtlinge überhaupt nach Europa zu kommen und zu ihren Routen? Wie wurden die aktuellen Konflikte in Syrien und dem Irak ausgelöst und wie werden sie noch immer von NATO-Staaten und deren außenpolitischen Freunden im Nahen Osten befeuert ? Werden derartige oder andere wichtige Erklärungen nicht mitgeliefert, ist der informierende Auftrag schlicht nicht erfüllt. Und diesen Anspruch erreicht momentan fast niemand – Auch du nicht, wenn du das Bild mit einem trauernden Smiley versehen weiter verbreitest und damit komplexeren Nachrichten für Facebooks Algorithmus die Relevanz abstreitest.
Was sehen wir wirklich?
Noch einmal: Das Problem ist nicht, dass Bilder die Rezipienten abstumpfen lassen. Bei Computerspielen etwa ist das schon lange diskutiert – und die Tendenz geht eher in andere Richtungen. Aber ohne eine tiefgreifende Beschäftigung mit dem was wir sehen, wird der Kontext des Bildes verfremdet. Das ist schlecht, dann so sehen wir kein totes Flüchtlingskind, sondern den Versuch, unsere Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das öffnet Tür und Tor für zweifelhafte Interpretationen, Desinteresse und Schutzreaktionen. Machen wir uns doch einmal endlich klar, dass Netzwerke wie Facebook ein öffentlicher Raum sind. Dieses Bild zu teilen, ist, wie das Plakat einer Kinderleiche aus dem eigenen Fenster zu hängen, sodass jeder auf der Straße es sehen kann. Nur dass bereits 10 andere Menschen ihren Balkon damit dekoriert haben. Und wenn sich schon ein paar Leute aufregen, dann lässt das die anderen meist nicht kalt, egal wie gehaltvoll die Bildunterschrift ist. Die Sozialforschung vermutet, dass Wut der stärkste Faktor ist, warum wir etwas teilen. Angst und Überraschung nehmen auch starken Einfluss, Trauer dagegen hemmt uns eigentlich, den Like- oder Retweet-Button zu drücken. Ist der Umkehrschluss dann, dass so erfolgreiche Bilder nicht zur Trauer anregen, sondern zu einer der anderen Reaktionen? Falls ja, dann ist die empfundene Emotion vermutlich nicht auf den abgebildeten Menschen gerichtet, sondern auf etwas anderes.
Eine wahre Geschichte: Vor kurzem in einer Kleinstadt in der Grenzregion zwischen Mecklenburg und Brandenburg. Die Mitt-Siebziger Oma meint beim Essen plötzlich „Dass die hier alle rein wollen, das nervt inzwischen wirklich“. Ihr Mann ist alter Linker, ihre Familie humanistisch geprägt, sie selbst ist noch innerhalb von Deutschland vor den Russen geflüchtet. Später hat sie sogar mit Kind und Kegel mehrere Jahre in Afrika gewohnt, wo ihr Mann für die DDR im Außendienst gearbeitet hat. Wie kommt sie zu so einer Meinung? Nach ein paar Fragen wird klar: Sie weiß auch, dass in der Stadt schon seit Jahren Flüchtlinge wohnen und meint, dass sich in der Stadt selbst nichts Nennenswertes verändert hat. Die aktuelle, katastrophale Unterbringungsfrage interessiert sie dagegen nicht, das ist ihr zu anstrengend und sie sieht keinen Grund, darüber nachzudenken. Jetzt wird klar, was hier eigentlich stört: Sie ist alt, hat ihre eigenen Probleme, will einfach in Ruhe leben und nicht mehr mit dem Leid anderer konfrontiert werden. Und noch schlimmer wiegt für sie, dass manchmal sogar ein abstrakter Vorwurf an uns alle mitschwingt. Was nervt sind also nicht die Menschen selbst, es ist sind die Geschichten, die in ihre (endlich) heile Welt eindringen.
Diese Frau steht stellvertretend für einen großen Teil unserer Bevölkerung und gestaltet mit ihrer Stimme das Land. Ihr Interesse bewegt Politiker – nicht das der gebildeten, multikulturell betroffenen jungen Städter, die gerade einen Bruchteil unserer Demographie ausmachen. Da sollte man sich nicht in seiner hippen Blase sicher wähnen. Wenn diese Menschen wütend oder geschockt werden, dann ist das entsprechende Thema wirklich auf der Tagesordnung. Deswegen haben (vor allem die öffentlich-rechtlichen) Medien die Aufgabe, alle Menschen eben nicht in Ruhe zu lassen und sie an ihre eigene bürgerliche Pflicht zur demokratischen Meinungsbildung zu erinnern. Es ist auch egal wie diese Meinung am Ende aussieht. Nazis muss eine demokratische Gesellschaft genau so aushalten wie Flüchtlinge. Aber egal für welche politischen Lösungen wir uns entscheiden – nur beschwichtigend miteinander zu reden, ist schädlich.
Es stumpft tatsächlich also etwas ab, nämlich die Debatte. Sie wird roher, respektloser, aber auch relevanter. Manche Debatten müssen aber die zynische Wahrheit des Geschehens beinhalten, sonst sind sie nicht politisch – sondern beschönigend. Dafür braucht es sogar eine gewisse Toleranz für Leid und Tod, denn ohne diese Toleranz wäre manches so unerträglich, dass wir es gar nicht in den Mund nehmen könnten. Wieder ein Dilemma.. Aber die großen moralischen Fortschritte unserer Gesellschaften wurden aus rationalen Argumenten heraus erreicht, nicht aus reaktionären Übersprungshandlungen. Was schockieren sollte, ist nicht das Bild eines toten Kindes – es ist die Tatsache, dass wir mit dem Schicksal dieser Menschen nicht in Ruhe gelassen werden. Was schockieren sollte, ist, dass es etwas mit uns zu tun hat. Wir wollen uns nicht schlecht fühlen oder das Gefühl haben, jemand wirft uns das Schicksal dieser Menschen vor, denn wir haben doch gerade Abendbrot gemacht, gestern Steuern gezahlt und morgen wird recyclet. Deswegen ertragen wir diese Bilder nicht. Aber wir müssen uns diese Vorwürfe machen und wir müssen uns auch gegen diese Vorwürfe verteidigen dürfen. Wir brauchen diese Diskussion.
Vielen Dank an Nuri Khadem für ergänzende Argumente und Quellen in diesem Beitrag.
Bildquellen
- sand-465724_1280: Pixabay
2 thoughts on "Du siehst das tote Kind nicht. Du siehst ein Bild eines toten Kindes."
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