Ein großes Glück, ein großer Erzähler
Ende Februar hat Takis Würger mit Für Polina seinen vierten Roman vorgelegt. Martin Spieß hat ihn gelesen und ist begeistert.
Spätestens seit Takis Würgers Roman Stella scheint es, als mache es Kritiker*innen richtig Spaß, auf ihn einzudreschen. Das Buch, das die Geschichte der Jüdin Stella Goldschlag fiktionalisierte, die Juden an die Nazis verriet, um ihre Familie zu retten, war der Startschuss einer nicht abreißenden Serie von Verrissen: Egal, welches seiner Bücher man bei einer Suchmaschine der Wahl eingibt (sein Debüt Der Club ausgenommen), man findet nichts anderes.

Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber die Rezensent*innen nehmen Würgers Bücher mit einer Härte und einer Häme auseinander, über die man sich nur wundern kann.
So ergeht es – wer hätte es gedacht? – auch Würgers neuem Roman Für Polina, der gerade bei Diogenes erschienen ist: „Hart an der Grenze zum Kitsch“ heißt es im NDR, „unerträglicher Kitsch“ im Buch-Podcast des Hamburger Abendblatts Next Book, Please und für den Deutschlandfunk ist es „ein verunglückter Roman“.
Allein, das Buch ist ganz und gar nicht verunglückt, es ist ein großes Glück.
Die Musik übernimmt das Sprechen
Ein Kurzabriss der Handlung: Fritzi Prager steht kurz vor dem Abitur, als sie im Italienurlaub ungewollt schwanger wird. Sie entscheidet sich für das Kind, und das wird zum Protagonisten des Buches: Hannes Prager, lange sehr zart und still, zieht mit seiner Mutter in eine alte, verfallene Villa im Moor im hannoverschen Umland, zu Heinrich Hildebrand, einem anfangs streitbaren älteren Mann, der sich um das Moor kümmert. Immer wieder zu Besuch: Güneş und ihre Tochter Polina, die zusammen mit Hannes zur Welt kam, wonach die zwei Frauen beschlossen, Freundinnen zu bleiben. In der alten Villa stehen ein Klavier und ein Plattenspieler, und so still Hannes auch lange ist, die Musik übernimmt das Sprechen für ihn. Er fängt an, Klavier zu spielen, und er verliebt sich in Polina.
Seine Mutter Fritzi arbeitet irgendwann als Hildebrands Gehilfin im Moor, und als Hannes 14 Jahre alt ist, stirbt sie bei einem Unfall.
Kann er Polina wiederfinden?
Hannes schwört dem Klavierspielen ab, nachdem er auf der Beerdigung seiner Mutter spielt und dafür beklatscht wird, und auch die Wege von Polina und ihm trennen sich. Er bleibt Klavieren nahe, fängt an, als Klaviertransporteur zu arbeiten. Er schleppt und versucht, Polina zu vergessen, die drängt sich ihm aber immer wieder ins Bewusstsein. Kann er sie wiederfinden, indem er den zufälligen Ruhm nutzt, nachdem er spontan auf einem zu transportierenden Flügel spielt und dabei von einer Passantin gefilmt wird, deren Video ein weltweiter, viraler Hit wird?
Ja, das Buch erzählt – unschwer am Titel zu erkennen – eine Liebesgeschichte. Ist das schon zu kritisieren? Nein. Was also finden die Kritiker*innen so kitschig und verunglückt? Vielleicht ist es die Tatsache, dass Takis Würger seinen Figuren erlaubt, groß zu denken und zu fühlen: „Ein Teil von ihm wollte in seiner stillen Trauer um die Mutter versinken wie in einem Tümpel im Moor.“
Zauberisch und poetisch
In einer Welt, die mitunter etwas Märchenhaftes hat, ohne dabei aber in Kitsch abzurutschen, entspannt sich eine berührende Geschichte großer Gefühle, die man durchaus kritisieren kann, vor allem, wenn man sein Herz in einen Panzer aus Ironie und Zynismus gekleidet hat. Zauberisch und poetisch ist Würgers Sprache, er spannt große Bögen, holt weit aus, verliert sich oder seine Leser*innen aber nie. Im Gegenteil sind es gerade diese vielen kleinen Welten, die Würger zu einer großen zusammenspinnt und die einen als Leser*in fesselt, ja: mit einspinnt. Und lässt man sich darauf ein, wird man Teil einer großen Liebeserklärung an die Liebe, an die Musik und an die magische Kraft der beiden. (Was zugegebenermaßen ein bisschen kitschig klingt, aber fuck it: Haters gonna hate.)
Es bleibt, egal, was die anderen sagen: Takis Würger ist ein großer Erzähler, und Für Polina ist ein weiterer strahlender Beweis dafür.
Takis Würger: Für Polina
Diogenes, 2025
304 Seiten, 26 Euro