Eurovision Song Contest 2017: Lasst uns wieder Letzte werden!

Es ist grauen- und rätselhaft. Seit Jahren müht sich Deutschland mit großem Erfolg, einen möglichst erfolglosen Beitrag zum Eurovision Song Contest (ESC) zu leisten. Weil man dieselben Fehler immer wieder macht.

Wie ging das noch gleich? Aus Fehlern lehr… aus Feler… aus Fehlern leh… aus Fel…egal.

Wenn Deutschland beim alljährlichen ESC antritt, sind die Ambitionen oft groß: Jahr für Jahr werden wir durch einen tollen Künstler mit super Stimme vertreten; „unser Song“, gegen den eigentlich keiner in Europa etwas haben kann, klingt nett, eingängig; gutes Mittelfeld muss drin sein, vielleicht top ten.

Ungefähr so motiviert es sich wieder – das treudeutsche Lager mit seiner ungeschälten Kartoffeligkeit. Würde man bei der musikalischen Repräsentation imstande sein, die WM-Fußballfan-esken Gedankenmuster zu überwinden, diesen plötzlichen blinden Kult, dann würde man den ESC, wenn überhaupt, wohl nur ironisch einschalten. Selbst wenn die allgemeinen Prognosen vorweg eher pessimistisch ausfallen, so klammert man sich gern an den Gedanken, dass man es doch wenigstens besser machen werde als die Jahre zuvor.

Am Samstag (13.5.) steigt das Finale der 62. Auflage des Eurovision Song Contests (ESC), in diesem Jahr live aus Kiew und wie immer mit einem ausgeklügelten Punktesystem, mit kräftig Honig ums Maul für eine „fantastic show“ und selbstverständlich auch für das hinreißende Kleid der Moderatorin. Das kennt zwar noch keiner, aber die Bemerkung ist in etlichen Ländern mit Sicherheit schon eingeplant.

Für Deutschland ist es dieses Jahr gar kein so fürchterlich frommer Wunsch, es endlich mal besser zu machen. Schließlich winkt für uns akute Loser, die wir zuletzt drohten, ins chronische Losen wegzudriften, die zweifelhafte Ehre, das Triple im Letzterwerden einzufahren. 2016 Letzter, 2015 Letzter. Auch in den Jahren davor setzte es nicht gerade Feiertiraden aus dem Ausland: 2014 Achtzehnter, 2013 Einundzwanzigster, 2009 Zwanzigster, 2008 Dreiundzwanzigster, 2007 Neunzehnter, 2006 Fünfzehnter, 2005 nochmal Letzter. Nur zwischen 2010 und 2012, während Raab mitmischte, war das Bild etwas hoffnungsvoller. Wer also hin und wieder mal ein Ventil sucht, von zu guter Laune runterzukommen, dem sei zur Lektüre die gelistete Historie von Deutschland beim ESC empfohlen. Heftiger Downer.

Unser Song: solide aber langweilig

Aber jetzt kommt alles anders! Der deutsche Beitrag 2017 hat zwar kaum in den eigenen Single Charts überlebt, aber dafür schicken wir mal wieder ein talentiertes Mädel mit einem Lied von mittelmäßiger Einprägsamkeit ins Rennen. Und sie singt vom (perfekten) Leben – das geht in der Popindustrie ja immer! Wie, kennen Sie nicht? Dann mal Play drücken und parallel bitte weiterlesen…

Bei der Sendung Unser Song hatte sich im Februar die 26-jährige Isabella Levina Lueen durchgesetzt. In Perfect Life singt sie von der Tugend, Neues auszuprobieren und das Unerwartete zu nehmen, wie es kommt. Der Inhalt bleibt so vage, wie es die Massentauglichkeit verlangt. Einige nachdenkliche Gegensätze symbolisieren Ambivalenz, in der sich jeder Mensch schon einmal wiedergefunden hat: Traum und Realität, falsche und richtige Entscheidungen, Schwanken zwischen sinner und saint. Bei Perfect Life fallen einem so herrlich viele Schlagworte ein: Freiheit, Lebenslust, Glaube an sich selbst, Hoffnung und Zufriedenheit. Musikalisch so halb-hymnisch, aber volle Pulle Pop mit Radioberechtigung. Der Anfang klingt außerdem wie David Guettas Titanium.

Wie auch immer, das ist kein schlechter Song! Er belastet nicht beim Hören. Er wird sogar – und das ist eine persönliche Meinung – immer besser, je häufiger man ihn hört. Doch da fängt das nur all zu offensichtliche Problem an: Wenn Deutschland beim ESC eines nicht gebrauchen kann, dann einen Beitrag, der erst „nach zehnmal höre“‘ seine Fans gewinnt. Siegerbeiträge der letzten Jahre hatten den deutschen Einsendungen oftmals die Eingängigkeit voraus, etwa Only Teardrops oder Heroes. Solch ein Faktor ist zwar schwer quantifizierbar. Doch wenn es daran bereits aus eigener Sicht zu mangeln scheint, stehen die Zeichen für einen Like-a-Satellite-Kantersieg relativ schlecht.

Beim ESC macht es kaum einen Unterschied, ob ein Lied mittelmäßig oder gar nicht ankommt. Auch das, was der Europäer nicht grottenschlecht findet, sondern einfach wegen Belanglosigkeit oder besserer Konkurrenz ignoriert, geht im System unter. Die vermeintliche „sichere Durchschnittlichkeit“ ist ein Schein. Wer in jedem einzelnen Ländervoting – nur mal angenommen – am elftbeliebtesten abschneidet, hat unter dem Strich null Punkte stehen. Ein ESC-Lied muss herausstechen. Es muss sich ins Gespräch bringen.

Auch der Zeitgeist kann eine wichtige Rolle spielen: Der Erfolg der Ukraine 2016 (Thema: Krim) sowie Österreichs 2014 (homosexuelle(r) Künstler(in)) haben einen unzweifelhaften politischen Anstrich, da können die Veranstalter noch so sehr beteuern, dass ihr Song Contest ein unpolitischer sei. Wenn versteckte Statements nachher so großen Einfluss ausüben, können wir ja doch nochmal Xavier Naidoo ran lassen…
Kleiner düsterer Witz am Rande.

Fehlerbehebung – Fehlanzeige

Dass die peinlichen Bemühungen des für den deutschen Beitrag verantwortlichen NDR seit Jahren zwischen Verzweiflung und Ratlosigkeit pendeln, bestätigt in der Retrospektion nicht nur die letztjährige, voreilige und schändlich quittierte Nominierung des völlig haltlosen Naidoo. Darüber hinaus muss die Frage gestattet sein: Wie um Himmels Willen schafft es eine derart große Sendeanstalt, die Teilnahme an einer derart ranghohen internationalen Musikveranstaltung trotz derartigem Aufwand derart konsequent zu versauen?! Warum überlegt sich da niemand mal etwas Gutes?

Stattdessen erinnert die jüngere ESC-Historie in mehrerlei Hinsicht an Erzeugnisse unmotivierter Klassenzimmer-Brainstormings:

  • Auf den spektakulären Sieg von Lena im Jahr 2010 lässt man sie, als stünde der Triumph nicht für sich, einfach nochmal antreten. Jedoch mit größerem Erfolg als die Einfallslosigkeit verdient hatte (Platz 10).
  • Als Reaktion auf den 2012er Siegersong Euphoria präsentiert Deutschland im Folgejahr einfach ein schlechteres Imitat (Cascada – Glorious), das sich drübergelegt fast genauso anhört.
  • 2014 bis 2016 folgen farblose No-Name-Beiträge mit weiblichem Gesang im Nirvana des Poppigen, mal elektronischer, mal souliger. Allesamt landen im hinteren Drittel, die neueren beiden werden Letztplatzierte.

Zweimal nacheinander steht Deutschland zuletzt als belächeltes Schlusslicht da und dann kommt der NDR und bringt Levina mit Perfect Life. Selbst wenn der Song wider Erwarten mithält – in diesem Verlauf steckt so viel fehlender Lerneffekt, dass einem eigentlich nur noch die Sängerin leid tut kann. Denn die steht, ohne deswegen eine schlechte Musikerin zu sein, im Fall eines Misserfolgs im Mittelpunkt des Interesses und badet öffentlich aus, dass ein Entscheidungskommittee die Aufarbeitungen der letzten Jahre versäumt hat.

Diese Aufarbeitungen hätten bei der Frage losgehen sollen, wie man einen geeigneten Künstler mit ESC-geeignetem Song nominiert. Nun. Ambitionierte Youngster werden gecastet, gewinnen die Gunst der Zuschauer, bekommen ihren Nachnamen getilgt (Lena, Ann-Sophie, Jamie-Lee, Levina) und einen schicken Song geschrieben. Ein Newcomer, der es allen zeigt, soll durchstarten, ohne überhaupt seinen musikalischen Stil und seine Bühnenpersonality gefunden zu haben. Bands durften sich gar nicht erst bewerben, schließlich lassen sich über den Einzelnen viel besser bewegende Geschichten spinnen. Der Zufallstreffer namens Lena Meyer-Landrut, an dem im Übrigen auch Stefan Raab nicht unerheblichen Anteil hatte, gilt vollkommen grundlos als unbezweifelbares Erfolgskonzept.

Nachdem nicht einmal mehr Raab seine Finger im Spiel hat, liegt das deutsche ESC-Schicksal in den ungeschickten Händen von Menschen, die zur Klasse „Ich rufe auf Fernseh-Hotlines an“ gehören. Das sind übrigens dieselben Leute, die in ihrer Kartoffeligkeit von „tollen Künstlern mit super Stimme“ schwärmen, als würde das bei diesem Format auch nur irgendeine Rolle spielen. Das Auffallende und Aneckende hingegen, das beim ESC für Erheiterung oder wenigstens Reaktionen sorgt (Conchita Wurst, Lordi, Buranowskije Babuschki, selbst Guildo Horn damals), würde bei uns kaum den Vorentscheid überstehen. Etablierte Künstler werden nicht gefragt oder tragen Aluhut.

Aber es kommt doch auch nicht so drauf an! Glücklicherweise gehört Deutschland zu den Haupsponsoren des Eurovision Song Contests, was uns stets einen gemütlichen Finalplatz ohne Vorrunden zusichert. Der politischen Regelung des unpolitischen ESC sei Dank, kann man sich erlauben, alles weiterhin so falsch zu machen wie in den vergangenen Jahren der Ignoranz und des Unvermögens.

Glaubt man den Verlautbarungen der Organisatoren, läuft auch dieses Jahr alles nach Plan: Für den Auftritt sei kein Tamtam auf der Bühne geplant  (Tänzer, Backgroundsänger, aufwändige Animation, Pyroelemente…). Alles möge sich fokussieren auf das Lied, die Sängerin und ihre Stimme. Also das, was Levina vom Rest der Kandidaten abhebt… Moment…

Peter Urban und Barbara Schöneberger werden kommentieren, es sei ein enttäuschendes und überraschendes Ergebnis. Levina habe fantastisch gesungen, sie sei unerschrocken gewesen, habe einen perfekten Auftritt hingelegt und alles gegeben, es habe aber nicht gereicht und man frage sich irritiert, wie die Zuschauer zu solchen Punktevergaben kommen konnten… Aber vielleicht kommt ja alles auch ganz anders. Und dann können wir fragen, wie willkürlich und unberechenbar eigentlich diese Votings immer sind…

Abschließende Prognose: Es wird zweistellig und vorne steht wohl eine 2.

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