Großstadtlichter: Pendlerin
In unserer Reihe Großstadtlichter beobachtet unsere Autorin dieses Mal Menschen bei hoher Lautstärke im Zug.
Ich war einmal eine Pendlerin. Jemand, der einen großen Teil seines Lebens in engen Zugabteilen verbrachte. Unfreiwillig auf Tuchfühlung mit schnarchenden alten Herren, nörgelnden Halbwüchsigen und lautstark telefonierenden Geschäftsleuten. Fünf Stunden hin, fünf Stunden zurück. Es hat zu lang gedauert. Es hat genervt. Ich bin froh, dass es vorbei ist.
Inzwischen reise ich nur noch so selten wie möglich, aber es kommt eben vor. Zum Beispiel, wenn ich meine Lieben in der Provinz besuche. Ich freue mich auf die Zeit mit ihnen und wenn ich dort abreise freue ich mich wieder auf meine schöne Wahlmetropole.
Zwischen beiden Lieblingszielen allerdings liegen fünf Stunden des Hinternplattsitzens auf blau gemusterten Sitzen, (die lederbezogenen mit Beinfreiheit kann ich mir nicht leisten) immer in der Erwartung, dass mich gleich jemand nerven wird. Die viele Fahrerei hat wohl ein Trauma in mir ausgelöst oder zumindest eine Konditionierung. Sobald der Zug los rollt, bin ich genervt.
Manchmal ist es ein diffuses allumfassendes Gefühl, manchmal konzentriert es sich auf eine konkrete Person.
Als ich zuletzt zurück in die Großstadt reiste, tat ich das an einem Sonntag in den Schulferien. Es ist nicht ganz klar, ob mich Gedankenlosigkeit oder Masochismus dazu verleiteten, denn an solch einem Tag besteht natürlich nicht die geringste Chance auf eine entspannte Fahrt.
Da ich meist – und auch in diesem Fall – zu knauserig bin, für eine Reservierung zu zahlen, konnte ich froh sein, dass ich überhaupt einen Sitzplatz bekam.
Meine Erleichterung lässt schlagartig nach als ich plötzlich bemerke, in welcher Gesellschaft ich gelandet bin. In den beiden Vierersitzgruppen direkt vor mir hat sich eine Bande aufgeregter älterer Damen verteilt. Über die Sitzlehne blickend mir gegenüber die lauteste und redseligste von allen. Das ist sie: die mir für heute zugeteilte Nervensäge.
Sofort offenbaren sich mir einige unangenehme Details.
Erstens: sie ist wohl schwerhörig und es hat ihr noch niemand gesagt, dass man das Lautstärkelevel, das sie verwendet, normaler Weise nutzt, um Alarm zu schlagen und es für eine gewöhnliche Unterhaltung völlig ungeeignet ist.
Zweitens: sie lebt allein. Seit mindestens einigen Monaten hat niemand ihr mehr zuhören wollen und jetzt muss alles raus. Welch wunderbare Gelegenheit und gleich so viele Zuhörer!
Aktuell wird über eine verhasste Kollegin gelästert. Lispelnd und laut.
„Ich sage mal: Willst du mal die E-Mail beantworten? Nee, sagt sie dann. Mach du mal. Und dann mach ich Post bis mittag. Wir machen das so zweigleisig. 20 Stunden, ne? 20 Stunden. Der Chef kommt immer zu mir. Der könnte ja auch zu ihr, aber dann sagt sie schnell: Ich hab jetzt Feierabend. Sie hat nicht ‚die Interesse‘. So. Ich hab mir alles selber beibringen müssen, die ganzen Bestellungen und so, das ganze NOS. Ich kenne mich aus. Lange Kleider, kurze Kleider, Schals. Alles kein Problem. Es ist jetzt nicht, dass sie faul ist, aber: bloß keine Verantwortung. Ich fummel dann da rum und dann kriege ich das hin, aber sie… ‚keine Interesse‘. – Freitag hatte die Urlaub gehabt, da war sie nicht da gewesen und dann war da ne Fehlermeldung und die geht nie ans Telefon.“
Als ich das letzte mal Gewaltfantasien hatte, war ich 15 und habe mir vorgestellt, den Kopf meines Mathematiklehrers an die Tafel zu klatschen. Seitdem war ich meist versöhnlich und ich bin zuerst etwas erschrocken, als ich plötzlich vor mir sehe, wie die Lispelzunge der kreischenden Dame auf Blasebalggröße anschwillt und zu platzen droht. Aber schön wäre es schon.
„Dann schickste das da hin per Fax, dann machste Häkchen dran. Da sind ja nur vier Punkte dran. Fünf blaue Blazer, fünf schwarze, fünf lange Röcke, fünf kurze.“
Weiß eigentlich irgendjemand wovon sie redet? Vielleicht reiht sie auch einfach nur Worte aneinander. Vielleicht ist das gar kein Kommunikationsversuch, sondern ein Tick.
Ich muss daran denken wie die Sprache der Erwachsenen in der berühmten Zeichentrickreihe „Die Peanuts“ immer als unverständliches Blubbern dargestellt wurde, weil das, was die zu sagen hatten, ohnehin nichts zur Story beitrug. Das könnte die Lösung für mich sein.
Doch gerade, als ich es fast geschafft hätte, in meinem Kopf auch das Nichtinformationswirrwarr der Lästersekretärin in ein angenehmes, nur etwas zu lautes, Blubbern zu transformieren, erreichen wir das Ziel meiner Reise. Die nächste Fahrt trete ich an, wie Charlie Brown es getan hätte.
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