Helden mit Verfallsdatum: Zum Geburtstag von Karl May

Karl May hat würde heute 184 Jahre alt. Mika Doe denkt über ihre Jugend mit dem zwiespältigen Autor nach.

Ich kniff die Augen zusammen. Durch den dichten Nebel konnte ich nur Schemen erkennen. Ich war Entdeckerin und Eroberin, die mit Skiern an den Füßen durch das weiße Nichts glitt. Hohe Konzentration war gefragt, während sich meine Hände mit festem Griff um die Stange vor mir schlossen. Langsam, ganz langsam machte ich meinen Weg zum Gipfel, den ich bislang nur erahnen konnte. Eine besondere Gefahr ging vom eisigen Wind in diesen Breiten aus. Kalt und scharf spürte ich ihn unter meine Haut dringen. Ich wusste, wenn ich mein Gesicht nicht ständig in Bewegung hielt, würde es nach kürzester Zeit erstarren. Einfach einfrieren im ewigen Eis und nie wieder auftauen. Ich musste mir also Hilfe holen und weil ich allein war konnten nur noch Wörter helfen, die dieser Gefahr gewachsen waren, die lang und kompliziert genug waren und die ich ohne zögern aufsagen konnte. Ein klarer Fall für Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah.
Wiederholung um Wiederholung zog der Skilift mich weiter. Mit übertriebenen Grimassen rezitierte ich diese fremd und kompliziert klingende Buchstabenreihung. Ich hatte den Namen von Kara Ben Nemsis Diener und Gefährten von meiner älteren Schwester gelernt, nachdem sie die Erwachsenen damit am Abendbrot-Tisch beeindruckt hatte. Ich hatte mich ausgeschlossen gefühlt, setzte mich hin, lernte den Namen und  ehörte dazu. Er war nicht nur Zeitvertreib in der einsamen Weite des überlaufenen Ski-Gebiets, er war auch eine Brücke zur Peripherie einer Welt, in der sich meine ganze Familie völlig natürlich bewegte. Aus der Begeisterung meiner Schwester und der Nostalgie meiner Eltern schloss ich, dass Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand aber vor allem Karl-May-Helden der Erwachsenenwelt sein mussten. Die Geschichten zu kennen schien ein unumgängliches Entwicklungsstadium auf dem Weg dorthin.

Liebe ohne Ironie

Also las ich Karl May. Ich weiß heute nicht mehr genau, welche Bücher das im Einzelnen waren, aber ich bin mir sicher, dass ich nicht sehr viel davon verstanden habe. Mein einziger Anhaltspunkt ist, dass ich Winnetou II in der dritten Klasse für meine obligatorische Buchvorstellung auswählte. Mit nicht zu leugnender Arroganz erzählte ich von einer Szene in der ein Grizzlybär einem Mann das Bein zerfetzt. Trotz – oder vermutlich grade durch – das relative Unverständnis meiner MitschülerInnen, fand ich Sicherheit in der Überzeugung, Teil eines erlesenen Clubs zu sein. Die Eintrittskarte waren die dicken, dunkel-grünen Bände mit goldener Prägung. Ein klares Zeichen ihrer Überlegenheit: die Fußnoten, kleine Schrift und das Fehlen eines Klappentexts. So verbrachte ich vermutlich mehr Zeit damit über Buchrücken zu streichen und die vergilbten Karten anzustarren, als tatsächlich die Bücher zu verschlingen, die -seien wir ehrlich- sehr lang sind für eine Grundschülerin.
Für ein paar Jahre aber war Karl May in unserem Haus allgegenwärtig. Er wurde beim Abendbrot diskutiert, die Filme wurden geschaut, alte Ausgaben von weniger bekannten Werken aufgespürt. Wir fuhren nach Bad Segeberg zu den Karl May Festspielen und ich bekam die unwiederbringliche Gelegenheit, dieses fragwürdige Spektakel völlig unironisch lieben zu können und zu dürfen.

Zerfall der Helden

Dass das nicht selbstverständlich ist wird deutlich an einer Situation, von der mir meine Tante vor ein paar Jahren erzählte. Als sie selbst jung war und sich durch Karl Mays gesammelte Werke las, vertiefte sie sich in die fremdartige Welt und die edlen Gestalten, die dort für das Gute kämpften. Eines Tages nahm sich mein Großvater einen Winnetou-Band und las ihr daraus vor.  Er übertrieb absichtlich, machte ausladende Gesten und ironisierte so die Helden seiner Tochter. Offensichtlich hat sich dieses Erlebnis so tief bei ihr eingebrannt, dass es für sie 50 Jahre später noch genug Relevanz hat, um davon zu erzählen. Zunächst hielt ich meine eigene Empörung über die Situation für den Ärger über eine pädagogische Fehlleistung, aber ich glaube inzwischen, dass es tiefer geht. Kindern ihre Helden kaputt zu machen ist natürlich an sich schon kein feiner Akt. Aber Karl May hat eine Sonderstellung.

Das merke ich, wenn ich heute versuche die Bücher zu lesen. Nicht, dass sie mir noch zu dick wären oder die Schrift zu klein oder die Wörter zu fremd. Sondern ich kann meine innere kritische Stimme nicht mehr abstellen. Ich finde die Darstellung von Winnetou als edlem Wilden rassistisch. Ich frage mich, ob es wirklich sein musste, Nscho-tschi umkommen zu lassen nachdem sich grade ein Weg zu westlich-“überlegener“) Bildung aufgetan hat. Ich frage mich gleichzeitig, ob es wohl so einfach gewesen ist sich als Indianerin an einer Schule einzuschreiben. Mir kommt Kara Ben Nemsi arrogant vor, wie er seinen muslimischen Gefährten und dessen Umgang mit der eigenen Religion lächerlich macht. Dass Old Shatterhands „Schmetterhand“ Gegner ausser Gefecht setzen kann, ohne sie zu töten, ist ok. Aber müssen denn alle immer so verdammt edel sein? Und müssen die Gegner alle so verdammt verschlagen sein? Dass Karl May (selbst wahrlich kein Edelmann) dann auch noch behauptete, dies alles selbst erlebt zu haben, ohne jemals an den Orten gewesen zu sein, macht ihn zwar extrem interessant aber unbrauchbar zu Idealisierung.

Zu schwach für den Nordwind

Für mich hatte die Idealisierung Karl Mays also ein Ablaufdatum. Als hätte es einmal einen Vertrag zwischen ihm und mir gegeben, der irgendwann still und leise aufgelöst wurde. Ich glaubte ihm, und dafür lieferte er Geschichten, die für eine begrenzte Zeit das Lagerfeuer meiner Familie waren. In der Zeit war er mir heilig. Als mein Großvater vor 50 Jahren also meiner Tante die Ironie aufzeigte mit der man Karl May wahrnehmen konnte, musste sie sich gefühlt haben als würde jemand vor ihren Augen diesen Vertrag zerreißen, der nur ihr gehörte. Die wohlwollende Haltung mit der man der inneren Logik von Geschichten folgt ist zudem eine wackelige Angelegenheit. Denn eigentlich weiß man schon, dass das alles irgendwie ‚unrealistisch‘ ist. Man weiß, dass man hier grade hinters Licht geführt wird und entschließt sich doch dazu, sich bereitwillig führen zu lassen. Damit ist ein Lächerlichmachen von Karl May auch ein Lächerlichmachen der Person, die sich grade für ihn begeistert. Mein Großvater stieß sie und ihre Helden von der Heiligkeit in die Lächerlichkeit und ist damit noch immer der größte Schurke meines persönlichen Karl-May-Kosmos.
Hätten meine Eltern Karl May damals nicht die Ernsthaftigkeit eingestanden, wäre wohl nie viel aus meiner Bewunderung geworden. Heute weiß ich, dass die Geschichten nicht unbedingt ehrbarer Bestandteil der Erwachsenenwelt sind. Das war damals ein großes aber glückliches Missverständnis. Es hat mich motiviert den Namen zu lernen, den ich auch heute noch mit mir herumtrage und der auf einer einsamen Ski-Piste ein Mantra für Zeitvertreib und Rückversicherung war.
Hadschi Halef Omar…. Hadschi Halef Omar…
Irgendwann wurde dieses Mantra mir langweilig. Vermutlich war ich nicht so tief in Konzentration versunken, wie ich heute gerne glauben würde. So ging ich zum nächsten Fragment über, das ich aus meiner Erinnerung kramen konnte: Satanarchäolügengenialkohöllischerwunschpunsch. Aber dieses Wort war schwach. Es war keine Herausforderung gewesen es zu lernen und es war ganz bestimmt nicht dem eisigen Nordwind gewachsen der mich einzufrieren drohte.

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