Horror und Harmonie im Heim
Gerade sind mit Nachts wach Berthe Arlos Aufzeichnungen über ihre Zeit als Nachtpflegerin erschienen. Martin Spieß hat sie gelesen.
Neunzehn Jahre hat Berthe Arlo im Nachtdienst als Pflegehelferin gearbeitet, von Mitte der 80er bis Mitte der Nuller Jahre. Ihre Erlebnisse hat sie aufgeschrieben, und sie sind jetzt als Buch im Berliner Verlag mikrotext erschienen. Beschriebe man Nachts wach mit „erschreckend aktuell“, wäre das noch eine Untertreibung.
Zwei Nachtwachen kommen auf achtzig Patient*innen, an diesen Umständen hat sich kaum etwas geändert, wie man aus einem Interview erfährt, das dem eigentlichen Buch angehängt ist.
Die Arbeit lieben, trotz allem
Die Pflegekräfte sind überarbeitet, sind körperlich, vor allem aber psychisch belastet. Aber sie lieben die Arbeit, trotz allem. Trotz Ausnahmezuständen, trotz immer wieder klingelnder Patient*innen, trotz weniger Zeit, trotz Ausbruch von Brechdurchfall im gesamten Altersheim – im bezeichnenderweise Horror betitelten Kapitel kann man Erbrochenes und Exkremente förmlich riechen, genauso wie das warme Wasser der Dusche und den Duft der Seife, wenn die Pflegekräfte eine Patientin waschen. Man liest von Pflegenotstand, von schlechtem Personal, von sich aufreibenden Pflegekräften, von Toden, von Schlaflosigkeit, von Müdigkeit – in all ihren Bedeutungen.
Sachlich und blumig zugleich
Berthe Arlo schreibt in einem Stil, der wundersamer gleichzeitig sachlich und blumig ist – etwa, wenn sie die ausgefallene Garderobe des Pfarrers beschreibt, der mal nur mit breitem Ledergürtel und Stiefeletten bekleidet durchs Haus geistert. Sie lässt dabei starke Bilder entstehen, die aber nicht pathetisch oder gar effekthascherisch sind. Sie schreibt, was ist, was sie und ihre Kolleg*innen erlebt haben – und was Pflegekräfte heute wohl immer noch genauso erleben.
Nachts wach ist nicht nur ein per se wundervolles Buch, das mit einer gleichsam zarten wie harten Sprache aus der ebenso zarten wie harten Welt der Pflege erzählt. Es ist außerdem ein wichtiger Beitrag zur längst überfälligen Debatte rund um die Pflege, dem viele Leser*innen zu wünschen sind.