I can’t breathe – Alltagsrassismus in den USA und in Deutschland

Unsere Autorin hat Alltagsrassismus erlebt – auf ihrer Jogginstrecke gibt es einen Zebrastreifen, der sie immer daran erinnert.

Ich gebe zu, dass ich es zunächst nicht mitbekommen habe, was am 25. Mai 2020 in Minneapolis im Bundesstaat Minnesota passiert ist. Derzeit bin ich Mama von zwei kleinen Kindern, beide unter drei, in der Corona-Krise und die KiTas haben noch immer geschlossen. Mein Alltag besteht aus Essen machen, Windeln wechseln, Übungen für den Beckenboden und irgendwie noch meinen Marketingaufgaben für ein kleines Familienunternehmen nachzukommen. Nein, ich habe es nicht mitbekommen. Über das Radio habe ich im Hintergrund mit einem halben Ohr was in den Nachrichten gehört von Rassismus in Minneapolis und dass es da um die Hautfarbe ging; mehr aber nicht. Das ging bis zu der Ausstrahlung der NDR Talkshow am 5. Juni so. Carolin Kebekus war zu Gast. Dort berichtete sie von ihrem ARD- Brennpunkt in ihrer Comedyshow, weil die ARD sich geweigert hatte über Rassismus in Deutschland einen Brennpunkt zu machen. Richtig cool fand ich das von ihr. In der NDR-Talkshow selber wurde nur ein kleiner Ausschnitt ihres Brennpunkts gezeigt, der mich aber so faszinierte, dass ich mir sofort das ganze Video auf YouTube davon anschaute. Der Zusammenschnitt über den Alltagsrassismus in Deutschland ging genau 8 Minuten und 46 Sekunden lang; also genau so lange, wie auch der Polizist Chauvin auf Georges Nacken kniete. Auch Georges Video habe ich mir in dieser Nacht angeschaut. Danach brach es über mich herein. Ich musste Rotz und Wasser heulen. So sehr nahm mich dieser Vorfall mit. Ich konnte es nicht fassen. Ich weiß, dass es vielen Menschen so erging. Man ist so ergriffen und betroffen, dass man mitleidet.

Doch wenn ich ehrlich bin, konnte ich zunächst nicht verstehen, was es genau ist, was mich so dermaßen bestürzte, dass ich immer und immer wieder über beide Videos nachdenken musste. Jetzt weiß ich es: Es ist der Alltagsrassismus. Ich habe ihn schon so häufig erlebt, dass er mir kaum noch auffällt. Eigentlich ist das das Erschreckendste daran. Seitdem ich gesehen habe, wie George Floyd gestorben ist, habe ich den Eindruck, dass er einen Märtyrertod gestorben ist. Er ist stellvertretend für viele andere Menschen an dem Tag gestorben.

In Hautfarben gedacht

Auch über die Smartphones, die den Vorfall gefilmt haben, musste ich nachdenken. Durch meine Tätigkeit im Online Marketing habe ich über viele Jahre hinweg ein zwiegespaltenes Verhältnis zum Internet und zu Social Media entwickelt. Aber wenn diese Handys das nicht gefilmt hätten, wüsste heute vermutlich kein Mensch, was am 25. Mai 2020 auf offener Straße passiert ist. Ich bin mir sicher, dass so etwas jeden Tag passiert. Dafür bin ich diesen Handybesitzern sehr dankbar, dass sie auf so eine Art und Weise das Thema in unser Bewusstsein gebracht haben. Warum bewegt mich Georges Tod so sehr?

Er bewegt mich unter anderem deshalb, weil ich im Schuljahr 2000/2001 ein Austauschjahr in den USA verbracht habe. Ich lebte damals bei einer Gastfamilie in South Carolina in der Nähe von Charleston in der Provinz. In dem Schuljahr wurde ich nur allzu oft Zeuge, wie sehr noch in Hautfarben gedacht und gelebt wird. South Carolina ist landschaftlich eine sehr sehenswerte Region im Südosten der USA. Es liegt zwei Staaten über Florida am atlantischen Ozean. Man nennt diese Region auch den Bible Belt der USA. Die Menschen dort sind oft sehr gläubig und nach meinem Empfinden auch sehr konservativ. In der Cafeteria, während der Lunch Pause, fiel mir auf, dass weiße Mitschüler sich zu den Weißen gesellten, während die Farbigen unter sich blieben. Komischerweise habe ich das zu der Zeit auch nie in Frage gestellt. Ich habe dieses Verhalten als normal wahrgenommen. Weiterhin ist mir aufgefallen, dass African-American Mitschüler anders redeten als weiße. Der Slang war anders. Ich musste mich da am Anfang erst dran gewöhnen, aber nach drei oder vier Monaten war das kein Problem mehr. Zu der Zeit lief der Tanzfilm Save the last dance in den Kinos. Inhaltlich handelt der Film auch ein wenig von Rassismus: Ein weißes Mädchen führt mit einem „anständigen“ dunkelhäutigen Jungen eine Beziehung. Die Schauspielerin Julia Styles wird darin von ihren dunkelhäutigen Mitschülern oft als Schneeflocke bezeichnet, weil sie die einzige an ihrer Schule ist, die weiß ist. Ich kann mich an eine Szene des Films erinnern, in der die beiden das erste Mal miteinander schlafen und ich das so schön fand, wie seine dunkelhäutige Hand ihren weißen Rücken berührt. Gleichzeitig habe ich an dieser Szene bemerkt, wie selten ich sowas bisher gesehen habe. Eigentlich fällt mir momentan nur noch die Ehe zwischen Heidi Klum und Seal ein, bei der das so war. Der Film zeigt auch einige beeindruckende Tanzszenen, besonders wenn man Hip Hop mag.

Beim Sport hielten alle zusammen

An der High School war ich damals im Track-Team. Da ich in Deutschland ebenfalls im Leichtathletikverein war, konnte ich ganz gut als Mittel- und Langstreckenläuferin mithalten. Was mir viel Freude bereitet hat, war die Art und Weise wie mich das Track-Team im Stadion während der Wettkämpfe angefeuert hat. Das kannte ich aus Deutschland nicht. Alles tönte: „Go Sonja, go Sonja, go Sonja!“. Das hörte sich in diesem African-American-Slang sehr cool an. Auch die anschließende Party im Schulbus, als es nach einem Auswärtssieg Richtung Heimat ging, werde ich nie vergessen: Eine Bombenstimmung und alle haben zu ihren eigenen Sprechchören getanzt. Ich bin so froh, dass ich damals im Track-Team war. Beim Sport hielten alle zusammen, egal welche Hautfarbe man hatte.

Unsereins würde denken, dass sich dort die Zeiten seit Martin Luther King oder Barack Obama geändert haben. Die beiden gaben uns den Anlass zu hoffen. Aber spätestens seit dem Tod von George Floyd ist klar, dass sich dort gar nichts verändert hat. Ich dachte von diesem Rassismusproblem seien nur die Südstaaten betroffen. Aber George wurde in Minnesota, einem Grenzstaat zu Kanada, im Norden des Landes umgebracht. Dort hätte ich das nicht vermutet.

Halbe Kartoffel

Wenn ich joggen gehe, überquere ich Straßen, auf deren Zebrastreifen mit Graffiti gesprüht steht: „R.I.P. George 25.5.“. Auch da kommen mir die Tränen. Ich bin davon betroffen, weil ich eine „halbe Kartoffel“ bin. Mein Vater stammt aus Deutschland und meine Mutter aus Vietnam. Bis auf Reisen und zwei Auslandsaufenthalten habe ich mein ganzes Leben in Deutschland verbracht und wurde auch nur einsprachig erzogen. Mein Gesicht sieht aber asiatisch aus. Bei mir äußert sich der Alltagsrassismus so, dass du zum Beispiel als junges Mädchen unterwegs auf dem Fahrrad sitzt, auf einmal irgendein Ü-50-Mann dich einholt und dich fragt, ob du mit ihm ficken willst. Er macht das einfach so, aus dem Nichts. In dem Moment bist du erst mal so perplex, dass du gar nicht weißt, was du erwidern sollst. Es fühlt sich so an wie ein Tritt in die Eingeweide. Auf so etwas bist du nicht vorbereitet. Es trifft dich im Kern deines Menschseins. Du bist fassungslos, wütend, traurig und frustriert zugleich. Dir fällt nichts ein, womit du zurückschlagen könntest. Situationen wie diese gab es häufiger auf dem Fahrrad. Eine weitere war, als ich damals in der Schwangerschaft mit meinem ersten Kind auf dem Weg zum Diabetologen war. Bei mir wurde Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert. An der Ampel stehend, auf grün wartend und an nichts Böses denkend, macht ein übergewichtiger Ü-60-Mann eindeutige Gesten, dass er Geschlechtsverkehr haben möchte. Als ich geschockt an ihm vorbei fahre, sagt er noch „Ping Pong“ zu mir, eine Anspielung auf den Sextourismus in Thailand. In meinem Kopf sind Wörter wie „assoziales Drecksschwein“, „verdammtes Arschloch“ undsoweiter, aber nichts bekomme ich heraus. Stattdessen bin ich für den Rest des Tages geschockt und wie benommen. Ich frage mich, wieso gerade mir so etwas passiert. Mir, die hochschwanger auf einem Fahrrad sitzt und aufpassen muss, dass sie nicht vor lauter Bestürzung vom Fahrrad kippt. Nach dem Diabetologen-Termin fahre ich nach Hause zu meinem halbspanischen Mann und erzähle ihm alles. Eigentlich muss man solche Leute anzeigen. Das ist sexuelle Belästigung. Mein Mann kennt solche Attacken nicht. Denn ihm sieht man nicht an, dass er ebenfalls ein Mischling ist. Oder liegt es daran, dass ich zudem noch eine Frau bin? Ich frage mich, ob sich männliche Asiaten auch mit so einem Scheiß rumplagen müssen.

Wie Monsieur Claude und seine Töchter

Ein weiteres Szenario spielte sich in einem Park ab. Zur Corona-Zeit und als die KiTas noch geschlossen hatten, habe ich mit meinen Kindern einmal pro Woche einen Radausflug in die wunderschönen Parkanlagen unserer Stadt gemacht. Mein Sohn mag es dort mit den Enten zu spielen, wobei das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Jede Woche treffe ich dort zur gleichen Zeit auf eine Frau. Vielleicht ist sie Ende vierzig. Sie hat immer ein Mädchen dabei, das bestimmt schon im Grundschulalter ist. Bei einem unserer Ausflüge in den Park war ich beschäftigt mit den Trotzattacken meines Sohnes. Trotzdem habe ich dabei mitgeschnitten, wie sich diese Frau mit einer anderen unweit von uns auf einer Parkbank über die Ursprünge und Folgen der Corona-Krise unterhielt. Dabei bekomme ich mit, dass die Frau mit der Tochter in unsere Richtung schaut und lauthals von sich gibt, dass die Chinesen an allem schuld sind, weil wir ja denken würden, dass es sinnvoll ist Fledermäuse zu essen und so ein Zeug. Ich fand diese Anspielung und überhaupt die ganze Situation dermaßen unangebracht, weil meine beiden kleinen Kinder dabei waren, die Corona und alles, was damit zusammen hängt, noch gar nicht verstehen. Genauso lauthals habe ich an meine Kinder zurück gegeben: „Vergesst diese Frau. Die ist total drüber. Bei der muss irgendwas durchgebrannt sein. Ihr müsst sie nicht ernst nehmen, wirklich nicht.“ Das war Rassismus, mit dem ich in der Idylle unseres Großstadtparks konfrontiert wurde. Wie soll man so ein Verhalten seinen Kindern erklären? Was ist das für eine Welt, in der sie aufwachsen? Immerhin leben wir mittlerweile im 21. Jahrhundert und die Globalisierung hat ihren Lauf genommen. Mein ebenfalls halbspanischer Schwager ist mit einer Tunesierin verheiratet. Meine Schwiegermutter mag die französische Komödie Monsieur Claude und seine Töchter, weil der Film eins zu eins auf ihre Söhne zutrifft. So sind wir eine richtige Multi-Kulti-Familie. Ich liebe es, dass die Schwiegermutter meines Schwagers mit meiner Mutter französisch sprechen kann, da in Tunesien französisch gesprochen wird und Vietnam mal eine französische Kolonie war. Ich bin gerne für eine Firma tätig, die in Vietnam produziert, da ich mich unter vietnamesischen Kollegen wohl fühle. Ich fühle mich da wie zu Hause bei meiner Mutter. Ich kenne die Gepflogenheiten und nichts muss groß erklärt werden.

Rassismus trifft dich immer dann, wenn du nicht damit rechnest. Bis heute muss ich noch an das kleine Mädchen denken, das mit dieser Frau im Park war: Was wird wohl aus ihr werden? Mit so einer Mutter, kann sie einem nur leidtun. Was für eine Vorbildfunktion hat diese Frau für dieses Kind? Wenn ich sowas sehe, wird mir schlecht. Das war die erste Frau, die mir zu verstehen gegeben hat, dass ich schuld an Corona sei. Ich muss schuld sein, weil ich asiatisch aussehe. Ich. Alles klar. Das Verrückte daran ist, dass ich an so etwas gewöhnt bin. Den ganzen Dreck und die verbale Schläge kenne ich von Geburt an. Ich dachte immer, dass das normal sei. Erst jetzt im zunehmenden Alter merke ich, dass dieser ganze Hass gar nicht normal ist.

Es beginnt im Kindergarten

Das man denkt, dass man irgendwie anders ist, fängt schon im Kindergarten an, wenn die Anderen dir Schlitzaugen ziehen oder ständig „Ching Chang Chong“ zu dir sagen. Ich weiß, dass das damals meinem Halbbruder als er 1980 zusammen mit meiner Mutter aus dem Vietnamkrieg hier her kam, sehr zu schaffen gemacht hat. Er war vier und er konnte noch kein Wort deutsch, was ihm den Start hier wirklich schwer gemacht hat. Ich wurde auch mit den Schlitzaugen konfrontiert, aber immerhin beherrschte ich die deutsche Sprache als ich in den Kindergarten kam, was es mir viel leichter machte die „Ching Chang Chong“-Attacken auszuhalten.

Was ich heutzutage amüsant finde, ist wie häufig ich auf Englisch angesprochen werde, besonders von älteren Frauen, die es gut mit mir meinen. Meist wollen sie mir mit dem Kinderwagen helfen oder mir die Ampelschaltung erklären. Bei diesen Menschen spüre ich, dass sie mir helfen wollen und deswegen erkläre ich ihnen dann zumeist auf Englisch, dass sie ruhig deutsch mit mir reden können, weil ich Deutsche bin, obwohl ich nicht so aussehe.

Das sind die Gründe, warum ich weinen muss, wenn ich auf meiner Joggingstrecke über einen Zebrastreifen laufe, auf dem „R.I.P. George 25.5.“ steht. Am 25. Mai ist er nicht nur für sich gestorben, sondern stellvertretend auch für mich und für alle anderen, die wissen, wie sich Alltagsrassismus anfühlt. Auch ich kann oft nicht richtig atmen, weil mir die Luft weg bleibt. Ruhe in Frieden, George Floyd.

Bildquellen

  • Zebrastreifen-1: Bild: Sonja Westphal