„Ich bin der Working Class Proll“ – ein offener Brief an Jan Fleischhauer
Dumm und selbst schuld dran? Von wegen. Ein offener Brief an Jan Fleischhauer.
Werter Jan Fleischhauer,
ich möchte Ihnen hiermit auf Ihre jüngste Kolumne antworten. Denn ich habe selten im deutschen Feuilleton einen Text gelesen, der derart verächtlich über ein bestimmtes Milieu schreibt. Der derart viele dumme Vorurteile bedient. Wer diesen Satz lesen kann, hat gute Eltern, ist Ihre Kolumne überschrieben. Sie gehen darin der Frage nach, weshalb es laut einer Bildungsstudie noch in der vierten Klasse so viele Schüler mit Lese- und Rechtschreibproblemen gibt. Sie machen darin eine seltsame Front auf. Gute Eltern sind solche, die ihren Kindern regelmäßig vorlesen. Und schlechte Eltern jene, die Bildung verachten.
Schnell sind Sie mit dem Klischee des Sozialschmarotzers zur Hand. Die Eltern dieser Kinder sind nach Ihrer Ansicht bildungsfern und faul. Sie fallen der Gesellschaft zur Last. Herr Fleischhauer, ich habe da einen bösen Verdacht. Sie wissen nicht viel über dieses Milieu, über das Sie sich so abschätzig äußern. Ihre Feder wird geführt von Vorurteilen. Für einen Journalisten ist das eine Bankrotterklärung. Und um mich an dieser Stelle klar zu positionieren: Ich bin der Working-Class-Proll, über den Sie da schreiben:
„Dass der Arme manchmal vielleicht auch deshalb arm ist, weil er faul ist oder vom Alkohol verblödet, ist ein Gedanke, der in unserer auf sozialen Ausgleich bedachten Gesellschaft als so anstößig gilt, dass er nicht zugelassen werden darf. Ich habe kein Verständnis für Eltern, die ihre Kinder vor die Glotze setzen und sich lieber mit dem Handy beschäftigen, anstatt ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen.“
Ich kenne das Milieu ziemlich gut. Ich kenne beide Seiten. Ich stamme aus einer Familie, in der sich Working Class und Lehrermilieu treffen. Familien, wie es sie zum Glück immer häufiger gibt, weil sie es erlauben, Vorurteile abzubauen. Mein Vater durchlief eine dieser gebrochenen Erwerbsbiographien, wie sie nach der Wende in Ostdeutschland typisch waren. Gelernter Kfz-Schlosser. Jahrzehntelang auf dem Bau malocht. Als Kranfahrer und Dachdecker gearbeitet. Und auch meiner Mutter erging es nicht zum Besten. Nach einem Unfall mit 18 Jahren musste sie ihr Studium aufgeben. Sie arbeitete als Telefonistin, doch nach der Wende fand sie nie wieder einen Job. Geld war immer knapp in der Familie.
Mein Vater hat mir nicht vorgelesen
Wenn mein Vater nach Hause kam, hat er mir nicht vorgelesen. Er besaß wenig Bücher, las selbst kaum. Aber dass er mir nicht vorlas, dafür habe ich Verständnis. Kam er nach Hause, dann hatte er sich oft den ganzen Tag auf dem Bau abgerackert. Er konnte nicht mehr. Er war fertig. Wir reden hier von Arbeitstagen, die oft 12-14 Stunden lang sind. Wir reden von Arbeitstagen, die früh um sechs anfangen und abends um acht enden. Harte körperliche Arbeit auf dem Bau. Hatten Sie jemals Schwielen an den Händen, weil Sie mit der Schaufel in der Hand gearbeitet haben, kennen Sie den frischen Geruch von Teer? Mein Vater hat seine Arbeit geliebt, und er hätte sie wohl verteidigt.
Jahrelang war mein Vater kaum da. Er arbeitete auf Montage. Er fuhr montags früh los, nachts um zwei. Und kam freitags Abend wieder. Er lebte dann mit sechs bis acht anderen Arbeitern gemeinsam in einer kleinen Pension oder Herberge. Manchmal auch nur in einem Wohncontainer. Wissen Sie, was das bedeutet, Herr Fleischhauer? Sich mit anderen Menschen einen engen Raum teilen müssen – nicht vorübergehend, sondern als Normalzustand? Wissen Sie, was das für Entbehrungen bedeutet? Vielleicht ist es auch so, dass unter den jetzigen Schülern mit Rechtschreibschwäche ebenfalls viele sind, deren Väter und Mütter tagsüber kaum zu Hause sein können.
Sie aber rufen das Bild des Sozialschmarotzers auf: des Mannes, der auf der Couch rumhängt, säuft, der Gesellschaft zur Last fällt. Wie viele Eltern betrifft dies, deren Kinder in der Schule Probleme haben? Ja, mein Vater hat auch getrunken, wie Sie das unterstellen, und er trank nicht wenig. Wenn er mit seinem Sportwagen unterwegs war: ein Luxus, den er sich trotz seiner oft prekären finanziellen Situation leistete, sagte er oft: „Der Wagen schluckt mehr als ich, und das will was heißen!“ Es gab Konflikte deshalb in meiner Familie. Vater konnte aggressiv, launenhaft, sogar übergriffig sein. Wenn er getrunken hatte, war er oft unberechenbar. Und manchmal habe ich das sogar verstanden.
Es gab zum Beispiel eine Zeit in den 90er Jahren, in der mein Vater nur unregelmäßig seinen Lohn bekam. Er ging monatelang auf den Bau, ohne dass er bezahlt wurde. Sein Arbeitgeber, ein Bauunternehmer vom Dorf, stellte sich dann vor seine Arbeiter und erklärte: Er habe zu viele Außenposten und könne jetzt nicht zahlen. Mein Vater schlich dann ins Büro und holte sich das ab, was sein Arbeitgeber einen „Vorschuss“ nannte, aber eigentlich ein Nachschuss war: mehrere hundert DM Bargeld. Als müsste er um Almosen betteln, obwohl er sich das Geld hart erarbeitet hatte.
Auch in Deutschland kämpfen viele Menschen um das finanzielle Überleben
Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, Herr Fleischhauer. Aber es gibt da draußen Menschen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen müssen. Mit Knochenjobs und schlecht bezahlter Arbeit. Die nicht nur einen Job haben, um über die Runden zu kommen, sondern 2-3 Jobs. Die sich als Taxifahrer, Bauarbeiter, Kfz-Schlosser, Putzkräfte oder selbstständige Unternehmer mit einem kleinen Laden durchschlagen. Und sie leisten für diese unsere Gesellschaft wichtige, unersetzliche Arbeit. Sind diese Menschen schlechte Eltern, wenn ihre Kinder Probleme in der Schule haben? Wenn, angesichts der Schwierigkeiten, mit denen sie kämpfen müssen, die Zeit und die Energie vielleicht nicht reicht, um abends noch mit dem Kind die Hausaufgaben zu erledigen?
Der wirtschaftliche Erfolg von Deutschland ist auch auf dem Rücken dieser Malocher aufgebaut. Spätestens seit den Arbeitsmarktreformen Gerhard Schröders ist der Niedriglohnsektor in Deutschland explodiert. Auch deshalb ist Deutschland eine führende Exportnation, wie selbst die wirtschaftsliberale OECD erkannt hat. Ich glaube, Sie wissen das. Aber Sie sind ein Journalist, der soziale Ungleichheit in seinen Texten oft leugnet oder relativiert. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn eine Familie sechs Monate auf den Lohn warten muss, weil ein Arbeitgeber nicht zahlt? Wenn sie sich deshalb verschuldet? Was das für einen Verzicht, für eine Wut, eine Verzweiflung bedeutet? Was es auch für einen Stolz bedeutet dennoch weiterzumachen, sich durchzuschlagen? Nicht in Staaten wie Chile, Mexiko oder Kasachstan. Sondern in Deutschland. Hierzulande.
Selbst Bildung lohnt sich immer weniger, die Prekarisierung schreitet voran. Sie haben einen gut bezahlten Redakteurs-Job bei einer renommierten Zeitung. Haben Sie sich mal unter freischaffenden Journalisten umgehört, wie viele schlecht bezahlt werden? Sich gerade so auf einen vierstelligen Nettolohn retten, obwohl auch sie gute Arbeit leisten? Sind vielleicht sogar Kollegen darunter, die für den SPIEGEL schreiben? Schlecht bezahlt sind zunehmend auch Universitätsdozenten. Altenpfleger. Erzieher.
Schlechter Schulabschluss – und trotzdem Leistungsträger
Ich selbst hatte einen Ausgleich in der Familie, denn mütterlicherseits komme ich aus einem Lehrerhaushalt. Auch, wenn meine Mutter nicht arbeitete. Seit ihrem 18. Lebensjahr ist sie schwerstbehindert, ihre Hände zittern, ihr Kopf schmerzt, sie kann nur schlecht laufen. Nach der Wende musste sie von einer niedrigen Rente leben, sie fand nie wieder einen Job. Solche Menschen sind schlecht zu vermitteln auf dem Arbeitsmarkt, das wissen Sie. Aber meine Bildung wurde gefördert.
Dennoch hatte ich in meiner Kindheit Freunde, bei denen das nicht so war. Die aus „reinen“ Arbeiterfamilien kamen: Vater Bauarbeiter, Mutter Köchin in einer Großküche. Vater Gemüsehändler,
Mutter Putzkraft. Eben jene bildungsfernen Haushalte, auf die Sie sich in Ihrem Text beziehen, Herr Fleischhauer. Und es waren auch Schüler unter meinen Freunden, die scheinbar wenig auf die Reihe bekommen haben: schlechte Schüler mit Rechtsschreibschwäche und schlechten Noten. Spätere Hauptschüler, die jetzt als LKW-Fahrer, als Bauarbeiter, als Kfz-Schlosser arbeiten. Manche sind erfolgreich. Ein früherer Freund hat eine Reinigungsfirma gegründet. Ein anderer hat eine eigene Fleischerei. Sie haben etwas geschafft, haben etwas aufgebaut. Das, was viele dieser schlechten Schüler schaffen und leisten, ist Anerkennung wert.
Hier müssen wir über den Begriff der Bildung reden, der auch der IGLU-Studie zugrunde liegt. Gemessen wird dort die Lesekompetenz. Als Maßstab gilt, wie viele Bücher Eltern in ihrem Haushalt haben. Da möchte ich auf ein Phänomen hinweisen, das ich bei sogenannten Soloselbstständigen beobachtet habe: Selbstständige mit einem kleinen Betrieb, aber ohne eigene Angestellte. Ich hatte in meiner Kindheit Freunde, die schon früh im Unternehmen ihrer Eltern mitarbeiten mussten. Die in der Werkstatt ihres Vaters Hilfstätigkeiten verrichteten. Oder auf ihre Geschwister aufpassten, weil die Eltern arbeiteten. Wenn ich einen Freund damals zum Fußball abholen wollte, hatte er oft keine Zeit. Er musste seinem Vater helfen, der eine kleine Tischlerei hatte. Von alldem findet sich in der IGLU-Studie nichts, das Phänomen scheint mir kaum soziologisch beschrieben. Ich lese davon auch in Ihrem Text nichts.
Und doch haben diese Kinder Fertigkeiten erlangt. Mein Vater war ein schlechter Schüler. Er hat noch immer eine Rechtschreibschwäche. Aber in der Berufsschule blühte er auf. Machte seinen Kfz-Schlosser und Facharbeiter. Später, auf dem Bau, zusätzlich einen Kranführerschein. Können Sie Autos zusammenbauen, Herr Fleischhauer? Wissen Sie, wie man einen Baukran lenkt – ohne damit die Kollegen vom Dach zu schubsen? Es wäre auch Aufgabe der Schulen, solche Fähigkeiten zeitiger zu erkennen und besser zu fördern.
Sie schüren Vorurteile!
„Ich halte es für klug, Fleischhauers herzliche Einladung zum Gegeneinander-Ausspielen zweier „Schichten“ nicht allzu bereitwillig anzunehmen“, kommentierte eine Journalistin auf meinem Facebook-Profil. Aber zu viele haben es bereits getan: Ihr Text wurde oft geteilt und auch mehrfach in meine Facebook-Timeline gespült. Ein Ergebnis der IGLU-Studie lassen Sie dabei leider völlig unberücksichtigt. Selbst bei gleich guten Leistungen bekommen Kinder aus Arbeitermilieus schlechtere Noten. Denn Menschen aus privilegierten Milieus sitzen nicht nur in den Redaktionen. Sie sitzen leider auch in den Klassenzimmern. Menschen, die ähnliche Vorurteile haben wie Sie: das bildungsferne Milieu, Sozialschmarotzer. In den Klassenzimmern sitzen Menschen, die lieber ihresgleichen fördern.
Was diese „Sozialschmarotzer“ einfordern, ist nicht Mitleid und staatliche Fürsorge, wie Sie es in Ihrem Text unterstellen. Sie wollen Respekt und Anerkennung für das, was sie täglich leisten. Und einen faire Bezahlung: guten Lohn für gute Arbeit. Und weil Sie das mit Ihrer Kolumne in Abrede stellen – sie wollen auch faire Chancen für ihre Kinder. Doch das bekommen sie immer noch zu wenig. Und das ist auch dadurch begründet, dass diese Menschen in der Politik immer noch unterrepräsentiert sind. Nach BILD-Recherchen gehörten dem letzten Bundestag nur zwei Arbeiter an. Aber 64 Rechtsanwälte.
Sie argumentieren nun, man müsste diese Kinder zeitiger aus den Familien herausnehmen, um sie besser zu fördern. Ich gebe Ihnen insofern recht, dass sie zeitiger gefördert werden müssen, auch ihre Rechen- und Lesekompetenz. Aber diese Kinder müssen nicht vor ihren Eltern geschützt werden. Ich bin meinem Vater dankbar, dass er mir trotz aller Konflikte die Lehren eines harten und entbehrungsreichen Lebens vermittelte – auch das ist Bildung.
Ich möchte abschließend noch einmal Klartext reden. Ihre Kolumne ist überheblich. Sie ist herabwürdigend. Und Ihr moralisierend-giftiger Ton unerträglich. Die Kolumne verrät mehr über Ihre Vorurteile und Abneigungen als über jenes Milieu, das Sie zu beschreiben vorgeben. Sie schüren Vorurteile, Sie treten nach unten. Wenn Sie dies mit Journalismus verwechseln, tut es mir leid. Es ist nicht mein Verständnis von Journalismus.
Bildquellen
- lego-1044891_1920: Pixabay
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