Interview mit Meryem Leila Şimşek (Künstlerin und Schauspielerin)

Heute bei Davon leben: Die Künstlerin und Schauspielerin Meryem Leila Şimşek über Brecht, Hobbes, das bedingungslose Grundeinkommen und die Unmöglichkeit von Bürokratie.

Du bist am 29. November 1989 in Köln geboren. Bist du dort auch aufgewachsen? Bist zur Schule gegangen, hast Abitur gemacht?

Nein, dort war ich nur die ersten sechs Jahre meines Lebens. Ich würde eher Münster als meine Heimat bezeichnen, da bin ich jetzt auch wieder gelandet – und auch zur Schule gegangen, bis zum Abitur.

Wieder gelandet nach Stationen in…?

Ich gebe dir mal den Schnelldurchlauf: Nach dem Abitur war ich für ein Freiwilliges Soziales Jahr in Malaysia, danach ein Jahr in Berlin, zum Studium der Kulturwissenschaften. Dann war ich drei Jahre in Hamburg und habe an der Medienakademie Media Acting studiert. Dann drei Monate Kapstadt und drei Monate Kiel. Insgesamt war ich von Herbst 2009 bis Herbst 2014 unterwegs. Nach 2014 war ich auch noch das ein oder andere Mal auf Reisen, auf dem Jakobsweg und für eine längere Zeit in Patagonien. Seit einem Jahr habe ich hier in Münster erst wieder einen festen Wohnsitz.

Hat sich das Nomadenhafte so ergeben oder war das etwas, was du auf der Suche nach deiner – Achtung, großes Wort! – Berufung bewusst gemacht hast?

Wenn ich mich auf eine Reise begeben habe, war das immer eine bewusste Entscheidung. Allerdings hat damals auch die Tatsache, dass ich mir ein Leben in Hamburg nicht leisten wollte dazu geführt, dass ich meine Koffer gepackt habe und gegangen bin.

Wollte oder konnte? Ich frage, weil es mir ähnlich ging: Ich bin 2010 nach Berlin gezogen, weil es damals noch so billig war, obwohl ich eigentlich nach Hamburg wollte, was ich mir jedoch nie hätte leisten können. Jetzt lebe ich seit 1,5 Jahren in der niedersächsischen Provinz.

Beides, aber ich war nicht zufrieden mit dem Gedanken, einen Kompromiss einzugehen und einen Job zu haben, der nur dazu dient, das nötige Geld zu verdienen. Ich vermisse Hamburg sehr, auch weil ich dort eine Theatergruppe habe, die Gold wert ist: Das Elbe vom Ei. Wir machen Improtheater auf sehr hohem Niveau, wurden schon mit dem Newcomerpreis der Hamburger Improliga ausgezeichnet und spielen inzwischen im Ernst-Deutsch-Theater. Es ist mir ein Dorn im Auge, dass ich nicht regelmäßig dabei sein kann. Aber meiner Erfahrung nach ist Hamburg doppelt so teuer wie Münster. Außerdem verlief der Einstieg in die Kreativ- und Medienbranche nach dem Studium nicht reibungslos, und ich war mir nicht sicher, ob ich dort überhaupt Fuß fassen wollte.

Inwiefern nicht reibungslos?

Während des Studiums sagen dir alle, dass es im Bereich Medien immer was zu tun gibt. Aber ich habe nicht Moderation und Schauspiel studiert, um dann in der Redaktion zu sitzen und meine „Lehrjahre“ zu machen, von denen viele sagen, dass sie obligatorisch wären. Während einige also das tun was sie für notwendig halten, schaue ich mir die Alternativen an.

Welche sind das in deinem Fall konkret?

Nach meinem Abschluss als Bachelor of Arts bin ich einen Monat lang den Jakobsweg gegangen, das war im März 2015. Dort habe ich interessante Gespräche geführt und Menschen kennen gelernt, die ihre Version des Lebens mit mir geteilt haben, wodurch meine Gedanken über meinen eigenen Werdegang angeregt wurden. Es hat sich auch ein eigenes Kunst- und Lebensprojekt aus diesen Reisen entwickelt, das ich bis heute weiterführe. Impulse Earth heißt das.

Und wann hast du deine Zweifel begraben, ob du in der Kreativbranche „überhaupt Fuß fassen“ wolltest?

Als ich mit dem Studium anfing, wollte ich ins Radio oder Fernsehen und dort moderieren. Aber als ich mit dem Studium fertig war, wollte ich das nicht mehr. Dann habe ich meinen Weg ins Theater gefunden, was ich liebevoll „Jobby“ nenne: Ein Hobby, dass offiziell ein Beruf ist, aber keiner, mit dem der Geldbeutel gefüllt wird.

Und womit füllst du deinen Geldbeutel?

Ich habe anfangs zumindest versucht, ihn mit Schauspieljobs zu füllen, und habe deshalb auch einige Castings besucht, wurde aber nie genommen. Dann war ich oft im Catering tätig. Das hat zwar überhaupt nichts mit Schauspiel zu tun, aber es trainiert die Nerven. Mein letzter Service-Job war als Souvenirverkäuferin auf dem Oktoberfest. Da habe ich gelernt, dass es wichtigere Dinge gibt als Geld, und dass man nicht um jeden Preis – oder auf Kosten der eigenen Gesundheit – alle Register ziehen muss, nur um Geld zu verdienen.

Es wäre schön, wenn KünstlerInnen einen Zuschuss erhielten, mit dem sie freier gestalterisch und aktiv sein könnten.

Inzwischen habe ich mir im näheren Umfeld einen Namen als Miss Miri gemacht. Das ist mein Künstlername, der für Kreativität und Performance steht. Als Miss Miri werde ich gebucht, um Schauspielworkshops zu geben oder Moderationstrainings. Oft arbeite ich mit Schülergruppen an Projekttagen wie den „Tagen der Nachhaltigkeit“ oder „UNESCO Projektschulen“. Ein anderer Bereich ist das filmische Arbeiten. Das mache ich mit meinem Freund zusammen. Irgendeine Einrichtung gibt uns einen Auftrag, dann kommen wir und machen kleine Filmreportagen. Vor einem Jahr habe ich auch noch mein eigenes Kunstprojekt begonnen. Damit habe ich jetzt auch schon ein wenig Geld verdient, also durch den Verkauf von Bildern. Ich investiere aber auch viel hinein, das ist also noch ein Jobby.

Was ist denn dein Schwerpunkt? Du hast ja gerade einiges aufgezählt, und auf der offiziellen Facebookseite von Miss Miri steht, du machst „Photography, Art, Camera Acting, Stage Performance, Design, Poetry“ – und du seist Model. Gibt es eine Priorität?

Es gibt keine alleinige Priorität – so einfach bin ich nicht gestrickt. Ich kombiniere irgendwie immer alles miteinander. Prinzipiell mache ich das, worauf ich Bock habe. Darunter fällt Naturfotografie auf meinen Reisen genauso wie Modeln für befreundete Kostüm- und Fashiondesigner. Auf der Bühne stehe ich als Schauspielerin in Hamburg mit meiner Impro-Theatergruppe Das Elbe vom Ei, die ich schon erwähnt habe. Design beinhaltet alles, was ich nach Auftragslage gestalte und auch für meine eigenen Programme, wie zum Beispiel meine Wanderausstellung Digitale Mandalas. Vielleicht ist alles irgendwie Schauspiel, und unser Leben ist die Bühne. (Das kennen wir doch irgendwoher, oder?) Im Frühjahr haben wir viel gedreht für den Film meines Freundes, der ist Rapper und hat zwei Jahre gespart für sein Herzensprojekt. Dort übernehme ich die weibliche Hauptrolle. Das ist dann Ehrenamt. Und apropos „Ehrenamt“: Mein Geldbeutel ist immer noch nicht voll. (lacht)

Nicht, dass ich dich beunruhigen will, aber meiner ist es (mit 35 Jahren) auch nicht. Im Gegenteil. Ich schreibe Bücher, mache Musik, male, mache Auftragsarbeiten im Bereich Lektorat, Korrektorat und Übersetzen – und trotzdem reicht es kaum.

Ja, wo ist das bedingungslose Grundeinkommen, wenn man es braucht?

Dein Wort in Kants Ohr.

Und trotzdem machen wir weiter, was?

Ja, es gibt doch aber auch keine Alternative, oder? Ich hab in Nine-to-five-Jobs gearbeitet und das war schrecklich. Das Leben ist doch nicht dazu da, um es mit Lohnarbeit zu füllen. Es geht doch um mehr als Produktivität.

Ich halte die Menschen für KünstlerInnen, die erkannt haben, dass ein neues Zeitalter oder eine neue Epoche begonnen hat. In dieser neuen Zeit geht es nicht mehr um Produktivität und Ertragsmaximierung, sondern um Selbstverwirklichung, und die wird durch Ausdruck erreicht, mit Hilfe von Kreativität. Wir haben alles, was wir brauchen, um ein gutes Leben zu führen. Es ist nur ungleich verteilt.

Blöde Frage, aber: Stört dich dieser Status quo? Oder nimmst du es als gegeben hin und machst trotzdem, gegen alle Widerstände, dein Ding, auch wenn der Geldbeutel dabei leer bleibt?

Mein Ding mache ich so oder so. Ich motiviere mich immer damit, dass ich Schritt für Schritt weiterkomme. Erfolg bedeutet für mich, meine mir gesteckten Ziele zu erreichen und glücklich damit zu sein, was ich erreicht habe. Viele hören schon bei der Idee auf, und lassen sich Ausreden einfallen, weshalb sie etwas nicht tun können. Zeit und Geld sind dabei immer die Hauptargumente. Es ist ja auch schwer, erst mal aus dem Hamsterrad auszubrechen. Dabei machen doch so viele Menschen schon vor, wie es anders geht. Ich habe wirklich ein Problem mit dem Wort „Arbeit“, und auch mit Wörtern wie „man“ und „muss“. Warum ist es normal, das man arbeiten gehen muss? Warum ist nicht allgemein Gewohnheit, dass „man“ einer „Beschäftigung“ nachgehen „darf“, die einer großen Menschengruppe Gutes bringt? Gerne gesehen ist das immer, aber unterstützt wird das nicht selbstverständlich. Da „muss man“ sich als Künstlerin selber erst mal behaupten, erklären, rechtfertigen, Anträge ausfüllen und so weiter. Und gerne akzeptiere ich die vorgegebenen Richtlinien nicht. Nach wie vor habe ich beispielsweise ein großes Problem mit dem Krankenkassenbeitrag. Ich verstehe das Prinzip des Solidaritätsstaats, aber warum muss man einen Beitrag zahlen, wenn man de facto gar kein Einkommen hat? Das ist doch ein Fehler im System, oder? Es wäre schön, wenn KünstlerInnen einen Zuschuss erhielten, mit dem sie freier gestalterisch und aktiv sein könnten. Klar gibt es die Künstlersozialkasse, aber als Künstlerin bin ich in ein System reingeworfen, in dem ich mich nicht zurechtfinden kann. Versicherung? Einkommensnachweise? Arbeitgeber? Bürokratie? Nicht, dass ich dämlich wäre oder so, aber mir stellt sich da ganz klar die Sinnfrage. Und ich denke: Das kann doch anders geregelt sein! In unserer Gesellschaft – in der die rationale und analytische linke Gehirnhälfte absolut getrimmt wird und somit auch ganz klar dominant ist – kann Kreativität überhaupt nicht verstanden und angenommen werden. Kunst ist nicht immer perfekt, sie ergibt nicht immer Sinn, und man kann nicht alles in Worte fassen, was man durch Kunst erfährt. Da sie nicht messbar ist, gibt es auch keinen Finanzregler dafür. Kunst sollte mehr wertgeschätzt werden, ich meine es wird ja von jedem erwartet, dass er sich in das vorgegebene System eingliedert. Warum verwährt man es den KünstlerInnen durch erschwerte Grundvoraussetzungen? Ich sage mal, zum Glück gibt es die, die sich einfach nicht in das 9to5-Leben integrieren können. Einfach weil sie es nicht fühlen. Ich zähle mich auch dazu. Ich würde gerne sagen: „Scheiß auf den Geldbeutel!“ Aber ich fühle mich dazu gezwungen, Geld zu haben, damit ich agieren kann, weil Geld das Mittel ist, mit dem hier in dieser Welt alles gehandelt wird. An sich ist Geld auch etwas Gutes, ein Instrument, mit dem diese ungleiche Verteilung aufgehoben werden könnte.

Zu glauben, dass eine so fundamentale Veränderung möglich ist, ist das nicht unrealistisch oder sogar – um ein sehr hartes Wort zu verwenden – naiv? Ist nicht die bestmögliche Option, sich in diesem System eine Nische zu suchen und es sich dort so gemütlich zu machen wie möglich, ganz einfach, weil man die Verhältnisse nicht grundlegend ändern kann?

Wenn man nicht daran glaubt, diese ungleiche Verteilung aufheben zu können, glaubt man auch nicht mehr an das Gute im Menschen und hat somit schon verloren. Ich wünsche mir sogar eine Welt ganz ohne Geld, egal wie das klingt. Daran, dass du es „naiv“ nennst, kann man sehen, wie weit der Mensch von dieser Idee noch weg ist. Er hält sie für so unmöglich, dass er gar nichts in die Wege leitet, um diese ungleiche Verteilung der Mächte aufzuheben. Den meisten von uns geht es ja „ganz gut“ und mit der Unterschicht hat man keinen Kontakt, also warum sollte man… Verstehst du?

Ich bin mir der prinzipiellen Richtigkeit dieses vielzitierten Satzes von Brecht – „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ – bewusst. Aber die, die Macht innehaben, lassen sie sich eben nicht so leicht abnehmen. Oft ist es, zumindest meiner Erfahrung nach, ein Kampf gegen Windmühlen. Davon ab halte ich es eher mit Hobbes, der auch nicht an das Gute im Menschen geglaubt hat. Andererseits wärst du wahrscheinlich gar nicht dazu in der Lage, deiner Arbeit auf diese optimistische Weise nachzugehen, wenn du nicht der Überzeugung wärst, dass Veränderung möglich und der Mensch zum Guten in der Lage ist.

Ja, richtig. Ohne diese Motivation kann ich meiner Vision nicht folgen. Aber was Hobbes sagt, das sind ja alles alte Analysen über den Menschen. Der Geist aber entwickelt sich weiter und kommt zu neuen Erkenntnissen, immerzu.

Du bist also trotz der Umstände guter Dinge?

Absolut. Ich liebe was ich tue, und bin da auch sehr guter Dinge – es dauert eben seine Zeit, bis man damit finanziell stabil ist für länger als den kommenden Monat. Geduld ist das wichtigste. Aber es wäre alles angenehmer, wenn mir jemand diesen Bürokratiezahn ziehen könnte. Bis jetzt ist alles sehr gut gelaufen. Ich überlasse jemand anderem, das System zu stürzen. (lacht) Vielleicht passiert das auch als Kollektiv-Bewegung automatisch, wenn mehr und mehr Menschen erkennen, dass es im Leben tatsächlich um mehr geht als Prestige, Arbeit, Geld und Ruhm.

Bildquellen

  • Meryem Leila Şimşek (1): Foto: Franca Hengstermann

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