Klolektüre: Revolution im Herzen

Unsere Autoren besprechen die Bücher, die bei ihnen auf der Toilette liegen. Die Klolektüre, eben. Heute: Revolution im Herzen. Ein Ex-68er begegnet einem echten Revolutionär.

Ich habe immer ein bisschen Mitleid mit diesen politisch hochmotivierten Leuten, die am Eingang von Festivals herumstehen und einem Zettel, Faltblätter und Pamphlete in die Hand drücken als würde sie tatsächlich jemand lesen. Als läge jemand das Bier aus der Hand und höre kurz einmal einer Band nicht zu, nur um in der, sagen wir,  örtlichen Zeitung der DKP zu schmökern und danach einmal alles gründlich zu überdenken. Ich nehme, wenn wir Leute bedrucktes Papier reichen, prinzipiell erstmal alles, halb aus genau diesem Mitleid, halb aber auch aus Neugier. Revolution im Herzen. Ein Ex-68er begegnet einem echten Revolutionär kommt aus so einer Situation.

In der Regel hat man Faltblätter, Flyer und Zeitungen schnell durchgelesen, Revolution im Herzen ist aber gut 100 billige Recyclingpapierseiten dick, das Format ist ungefähr A5. Als das Wochenende und das Festival vorbei waren, zog ich es aus meiner Tasche, sah einmal kurz auf das Layout des Covers, auf den weißen Blinker mit dem Siegel „Antifa – proof“ und dachte: Oh, irgendwas linkes, vielleicht haben sie einen 68er gefunden, der von der nicht-so-ganz-stattgefundenen Revolution in Deutschland enttäuscht war und dann in einem südamerikanischen Dschungel irgendwen kennengelernt hat, der irgendeine Geschmacksrichtung Sozialismus / Kommunismus irgendwo anders ein bisschen mehr durchgedrückt hat. Spannend. Und legte es auf den Haufen Bücher im Klo, in dem ich lese, wenn ich wirklich gar nichts besseres zu tun habe.

DIY-Glaube

Da lag es nun. Bis ich es gestern durchblätterte. Spoiler: Der echte Revolutionär ist kein Südamerikaner. Es ist Jesus. Jemand namens Matthias Sesselmann schreibt aus der Ich-Perspektive, wie er Teil der 68er Bewegung in Hannover wurde, davon dann aus verschiedenen Gründen enttäuscht war – Dogmatismus, falsch verstandene Ideale, hauptsächlich aber Drogen – und sich dann zusammen mit anderen Enttäuschten eine christliche Bewegung zusammenbastelte, die  versuchte, Menschen in schweren Lebenssituationen zu helfen. Deren Ausläufer sind noch heute in Hannover aktiv. Hier ist Sesselmann im Video:

Super ist auch dieser schöne Retro-Beitrag über Sesselmanns Laden Come In, der mal im Hannoveraner Hauptbahnhof war:

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Einerseits ist es natürlich schäbig, sich über jemanden lustig zu machen, der für sich eine Art von Ideologie findet, innerhalb derer er gutes tut. Genau, wie ich verstehen kann, dass der Dogmatismus, der halbblinde politische Eifer der 68er – und dessen letztliches Auswuchern in Gewalt oder enttäuschten Hedonismus – aus einer bestimmten Perspektive desillusionierend sein konnten. Aber die ganze Subkultur, die Sesselmann beschreibt – diejenige der christlichen Ex-68er – ist eine dermaßen naive, die, so wirkt es in dem Buch, auch nur eine in sich geschlossene Blase ist, die Subkultur eher simuliert, in der es eigene christliche Rockbands gibt, die sich zwar engagieren, aber auch nicht so ganz genau wissen, wohin, sich dafür aber in ihrem DIY-Glauben die ganze Zeit selbst bestätigen (und versuchen, zu helfen. Und es manchmal wirklich schaffen, das kann man nicht genug betonen). Irgendwie ist alles glibschig und schmierig. Das kann aber auch an mir liegen, das passiert mir immer, wenn ich überzeugte Christen treffe, die darüber reden, dass sie überzeugte Christen sind, egal, wie nett sie ansonsten sind, egal, ob sie auf Missionierung aus sind oder nicht. Und das ganze ist dann noch gepaart mit diesem eigenartigen Bewusstsein von Rechtschaffenheit, dass man in linksalternativen Jugendzentren manchmal findet. Nicht, dass Sesselmann in oder mit seinem Buch versucht, jemanden zu überzeugen oder zu missionieren. Trotzdem zeichnet er in seinem Buch zwei Welten: Die christliche und die verfallene. So ungefähr:

Nach meiner persönlichen Erfahrung mit diesem befreienden Glauben machte mir der Anblick der blass-grünlichen Gesichter der Menschen um mich her, gleich, ob bei Rockkonzerten, anderen Massenveranstaltungen oder nur morgens in der Straßenbahn, schwer zu schaffen. Ich erkannte jetzt, wie abgehetzt, innerlich unter Druck und ohne Perspektive für ihr Leben sie oft waren. Jesus hat gesagt: „Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen! Denn mein Joch ist sanft und leicht.“ (Matthäusevangelium, Kapitel 11, Verse 28 bis 30). Ich fühlte mich aufgefordert, gleich am Tag meiner Gotteserfahrung etwas zu tun.

Und so weiter. Alles Drogenopfer außer Jesus. Es ist schwer zu fassen, was genau daran unangenehm ist – etwas auf jeden Fall. Aber auf dem Klo liegt es gut.

Herausgegeben ist das Buch übrigens von SoulBooks.dedie irgendetwas mit gott.de zu tun haben. Hier jedenfalls noch ein paar Bilder aus dem Hannover des Jahres 1986, inklusive leicht ranzigem Jesus Treff mit der wahrscheinlich coolsten Schriftart überhaupt am Eingang.

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