Kulturgut Fußball: Zeig mir wie du kickst und ich sag dir wie du tickst
Vom aufrührerischen Geist der 68er bis zum totalen Kapitalismus unserer Gegenwart: auf und neben dem Platz spiegelte der Fußball stets den Zeitgeist wider.
Als Teil der Popkultur war und ist Fußball auch immer ein Ausdruck des Zeitgeists. Der erste Popstar des Fußballbusiness war George Best. Nicht nur Pelé und Beckenbauer hielten den Nordiren für den besseren Fußballer. „Maradona good, Pelé better, George Best“, lautet ein nordirisches Sprichwort. Seinen Zenit erreichte er mit gerade einmal 22 Jahren zu einer Zeit, als die Jugend gegen Konformitätsdruck und gesellschaftliche Normen aufbegehrte. 1968 gewann Best mit Manchester United den Europapokal der Landesmeister (der Vorläufer der Champions League) und bezauberte das Publikum mit einem beschwingten Fußball, der ganz im Geiste der Swinging Sixties das vorherrschende kick and rush als Synonym des Establishments alt aussehen ließ.
Wie die Rockstars jener Tage lebte der zum „fünften Beatle“ erkorene Best Individualismus und Hedonismus in vollen Zügen aus. Der Fußball ersetzte zwar den Rock’n’Roll, Sex und Drogen blieben aber fester Bestandteil seines Lebensstils. Öffentlichkeitswirksame Frauengeschichten und krankhafter Alkoholkonsum waren Bests Karriere sicherlich nicht förderlich. Im Gegensatz zu Musikern wie Hendrix oder Morrison starb er zwar nicht jung, aber an den fußballerischen Höhepunkt mit Anfang zwanzig sollte er nie wieder anknüpfen können. So blieb Best der Unvollendete; das schlampige Genie, dessen wahre Größe die Welt nie erfahren sollte. Der beste Spieler, der nie an einer WM teilnahm.
Aber Bests Bedeutung ging über die des Mädchenschwarms und Lebemanns hinaus. Im Nordirlandkonflikt, der seinen traurigen Höhepunkt mit dem Bloody Sunday am 30. Januar 1972 erlebte, war Best eine der wenigen Symbolfiguren, mit denen sich Protestanten wie Katholiken, Nordiren wie Iren gleichermaßen identifizieren konnten. Best befürwortete eine gesamtirische Fußballnationalmannschaft. Wenn sich schon nicht die beiden irischen Staaten vereinen ließen, so doch zumindest ihre Fußballnationalmannschaften, um einen größeren sportlichen Erfolg bei internationalen Turnieren zu gewährleisten. Wie die Lösung des Nordirlandkonflikts blieb auch dies Wunschvorstellung.
Holländischer Meister
Der antiautoritäre Geist der 68er wirkte auch in der letzten großen Taktikrevolution nach: dem holländischen totaal voetbal. Von 1971 bis 1973 dominierte Ajax Amsterdam mit dieser nie zuvor gesehenen Spielweise Europa, indem es dreimal in Folge den Europokal der Landesmeister gewann. Angeführt wurde Ajax‘ Erfolgsmannschaft von niemand geringerem als Johan Cruyff, der den totalen Fußball geradezu personifizierte. Diese Spielphilosophie griff „auf Ressourcen der freigeistigen holländischen Kultur zurück“ und brillierte durch „Stil, Intelligenz und Schönheit“ (11Freunde #174), wofür insbesondere Cruyff zuständig war. „Was den Briten die Beatles und die Stones, war den Holländern ihr Johan.“ (ebd.) Bis zu seinem Tod im März 2016 war Cruyff ein streitbarer Charakter, der sich als Spieler und Trainer wie selbstverständlich mit den Oberen (vornehmlich Fußballfunktionäre) anlegte.
Der totaal voetbal war beinahe so etwas wie ein demokratisches System, das in dieser Form wohl nur aus den Niederlanden als dem damals liberalsten Land des Kontinents entstammen konnte. Durch das temporeiche Angriffsspiel mit seinen ständigen Positionswechseln spielte jeder auf jeder Position; jeder stand für jeden ein. Die Verteidiger griffen an, die Angreifer verteidigten. Auf dem Spielfeld benötigte das Team im Grunde keine außenstehende Autoritätsperson in Form des Trainers. Es organisierte sich aus sich selbst heraus. Der alles überragende Cruyff dirigierte seine Teamkammeraden ohne darauf zu verzichten, Gleicher unter Gleichen zu sein. Kreativer Individualismus und systematischer Kollektivismus verharrten nicht im Widerspruch, sondern konnten in Einklang zueinander gebracht werden. Der Durchschnitt wusste den Einzelkünstler zu schätzen und vom ihm zu profitieren; das Genie musste sich nicht der Norm unterordnen.
Der totale Fußball erlebte seinen Höhepunkt bei der WM 1974 in Deutschland. Im Finale gegen den Gastgeber scheiterte die niederländische Nationalmannschaft, die sich größtenteils aus Ajax-Spielern zusammensetzte, jedoch an ihrer eigenen Arroganz. Im Nachhinein konnte diese Niederlage immerhin zu einem moralischen Sieg über die pragmatischen Deutschen uminterpretiert werden: lieber schön verlieren als hässlich gewinnen.
Einige Monate vor der WM wechselte Cruyff zum FC Barcelona und transferierte als Spieler sowie später als Trainer die Idee vom totaal voetbal nach Katalonien. Dieser Kulturtransfer wirkt bis heute beim Verein und ehemaligen Spielern wie Pep Guardiola nach und beeinflusste sogar die spanische Nationalmannschaft. Ihr tiki-taka, dank dem sie 2010 Welt- sowie 2008 und 2012 Europameister wurde, steht ganz in der Tradition Cruyffs und ist seit den Turniersiegen das Maß aller Dinge. Trainer wie Joachim Löw eifern dieser Spielweise fleißig nach.
Paradigmenwechsel
Nach der WM 74 setzte ein allgemeiner Mentalitätswechsel im Fußball ein. Natürlich spielte Geld auch vorher schon eine Rolle. „Geld ist wichtig. Aber es gibt Wichtigeres“, so Cruyff. Doch von nun an wurde der Fußball systematisch kommerzialisiert. Vorangetrieben wurde diese Monetarisierung vom damaligen neuen FIFA-Präsidenten Joao Havelange. Der Brasilianer legte den Grundstein für die heutigen mafiösen Strukturen in der FIFA und war Ziehvater eines gewissen Sepp Blatters, der Havelange als FIFA-Präsident beerben sollte.
Das bloße sportliche Kräftemessen als alleiniger Wettbewerbsgedanke verlor an Bedeutung gegenüber den Einnahmen aus Sponsorenverträgen und Übertragungsrechten. Eine sportliche Niederlage – egal ob ein Abstieg in der Liga oder ein verlorenes Finale im Turnier – wurde gleichbedeutend mit finanziellen Verlusten bzw. Mindereinnahmen. Die Angst vor der Niederlage wurde somit größer als die Lust aufs Gewinnen, was sich in einer zusehends defensiveren, wenig ästhetischen Spielweise, die risikoarmer und daher kalkulierbarer war, niederschlug.
Als ein Beispiel unter vielen kann hierfür der deutsche WM-Sieg 1990 unter Teamchef Franz Beckenbauer herangezogen werden. Der DFB-Elf genügte ein mageres 1:0. Der Siegtreffer kam durch einen Foulelfmeter zustande. Wie Cruyff ist Beckenbauer die Fußballikone seines Landes. Doch während Cruyff als Offensivspieler aus dem liberalen Amsterdam einen dementsprechend offenherzigen Angriffsfußball propagierte, war Beckenbauer ein Verteidiger aus der bayrischen Provinz, dessen Fußball eine dementsprechende von Sicherheit und Konservatismus geprägte Mentalität verkörperte.
Das englische kick and rush, das italienische catenaccio, das brasilianische jogo bonito, der holländische totaal voetbal – vor seiner Globalisierung waren im Fußball kulturelle Eigenheit und Mannigfaltigkeit zu finden. Obwohl Deutschland eine bedeutende Fußballnation ist, brachte es nie eine eigene relevante Taktikschule hervor. Vielleicht besaß es dafür zu wenig Freigeist oder war zu konformistisch veranlagt, was ebenso ein Ausdruck kultureller Charakteristik sein kann.
Kapitalismus über alles
Heute ist der Fußball sowohl Gegenstand als auch Symbol der weltweiten Neoliberalisierung. Mit jeder neuen Saison wird neuen Höchstbeträgen bei Spielergehältern, Ablösesummen, Sponsoreneinnahmen und Übertragungsrechten nachgejagt. Die Vereine kämpfen nicht nur um Titel, sondern um neue Wachstumsmärkte. Spieler und Vereine sind zu Spekulationsobjekten verkommen.
Wie der Bürger auf gesellschaftspolitischer Ebene wird der Fan im Mikrokosmos Fußball zum bloßen Konsumenten ohne Mitspracherecht degradiert. Nicht-monetäre Wertvorstellungen und Ideale fallen dem a-moralischen Profitstreben zum Opfer. Viele Fans wenden sich deshalb vom massenkompatiblen Hochglanzprodukt ab. Sie wenden sich stattdessen dem Amateurfußball zu und gründen in Einzelfällen sogar eigene Vereine als Gegenentwurf zu den emotionslosen, anonymen Kapitalgesellschaften, zu denen die Profiklubs mutiert sind. Die Fans schaffen sich ein Refugium jenseits der kapitalistischen Logik, in dem weniger der sportliche Erfolg als vielmehr grundlegende zwischenmenschliche Werte zählen: Selbst- und Mitbestimmung, Zugehörigkeitsgefühl, Gemeinschaftssinn.
Im globalen Kapitalismus sind Begriffe wie Solidarität sozialistische Fremdwörter. Die Schere zwischen arm und reich macht auch vor der Millionenindustrie Fußball nicht halt und lässt allmählich die Sorge um Wettbewerbsverzerrung und sportlicher Langeweile aufkommen. Die ewig gleichen Champions League-Teilnehmer wie Bayern München können dank des internationalen Wettbewerbs beständig ihre Kassen füllen und ziehen an der Spitze ihrer nationalen Liga einsam ihre Kreise. Die finanziell schwachen Mitbewerber stellen keine ernsthafte Konkurrenz mehr dar. Mehr Geld garantiert die besten Spieler, die sportlichen Erfolg und damit mehr Geld garantieren. Gemäß dem sozialdarwinistischen Leistungsprinzip unserer Epoche wird eine Umverteilung von Vermögen strikt abgelehnt.
Auf dem Spielfeld versinnbildlicht die Taktik Pep Guardiolas die neoliberale Doktrin derzeit am deutlichsten. Guardiola hat ein System der höchstmöglichen Effizienz geschaffen. Die totale Kontrolle über das Spiel (mind. 60-70% Ballbesitz) soll den Gegner keine Chance lassen zu agieren und vor allem den Zufall – den Feind aller Rationalisten – ausmerzen. Da der größte Unsicherheitsfaktor nach wie vor der Mensch ist, hat sich der einzelne Spieler vollständig dem System unterzuordnen. Bereits mit der etwas eigensinnigen Spielweise eines Thomas Müller oder der Emotionalität – einem weiteren Feind der Rationalisten – eines Arturo Vidal konnte sich Guardiola während seiner Zeit bei Bayern nur wenig anfreunden. Als Rädchen im Uhrwerk darf niemand aus der Maschinerie ausscheren. Das Individuum hat als Leistungszombie fehlerfrei zu funktionieren.
Anfang der 70er Jahre posierte Paul Breitner mit der Mao-Bibel und bekannte sich zu Che Guevara. Heutige Nationalspieler sind gemeinhin unpolitisch und hören Helene Fischer. Zeitgenössische Fußballikonen wie Cristiano Ronaldo oder David Beckham in den 00er Jahren repräsentieren den schönen Schein und den Konsum. Keiner von ihnen legt eine nonkonformistische Attitüde an den Tag oder zeigt Interesse daran, die vorherrschenden Autoritäten und Normen in Frage zu stellen. Auch heute noch ist Fußball ein Ausdruck des Zeitgeists.
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