Lieblingsdinge: Drei mystische Erzählungen von E.A. Poe mit Widmung
Unsere Reihe Lieblingsdinge. Heute: Drei mystische Erzählungen von E.A. Poe mit Widmung von 1942 – die eine besondere Liebesgeschichte erzählt.
Es gibt Geschichten, die springen einen an, ohne dass man viel tun muss. Zum Beispiel an einem verkaterten (und gleichzeitig schon wieder betrunkenen) Samstag im Antiquariat um die Ecke, in dem ich auf einem Tisch in einer versteckten Region des Ladens auf einen der Miniaturbände aus dem Hyperion-Verlag stieß: Drei mystische Erzählungen von E.A. Poe.
Auf dem Vorsatzblatt steht die eigenartige und schöne Widmung:
Zur Erinnerung an 2 schöne Tage in Bielefeld.
28. / 29. März 1942
Dein Spatz.
Die Geschichte, die in mir zu dieser Widmung losratterte ist eine Liebesgeschichte.
Ich sehe einen jungen Soldaten vor mir, 18 oder 19, vielleicht ein überzeugter Anhänger des Dritten Reiches, vielleicht einfach nur jung und in die ganze Sache reingerutscht, vielleicht einfach nur naiv. Er liegt auf dem Bett in einem Hotelzimmer, die Einzelteile seiner Uniform liegen auf dem Boden. Der 28. und 29. März waren ein Wochenende, er hat es in diesem Zimmer verbracht, am Montag muss er wieder in die Kaserne, am 1. April ausrücken. Vielleicht – 1942 – als Verstärkung für den Russlandfeldzug, vielleicht wird im Spätsommer in Stalingrad sein und den Winter dort verbringen. Vielleicht soll er nach Frankreich, wird ab Ende des Jahres helfen, den Atlantikwall aufzubauen. So oder so: Er muss fort und kann nichts dagegen tun, alles andere wäre Fahnenflucht. Vielleicht kommt er nie wieder zurück. Er weiß das. Dieses Wochenende ist das einzige, das ihm noch bleibt. Und draußen brennen Europa und die Welt.
Das letzte Märzwochenende 1942 ist sonnig, aber kalt. In Bielefeld werden unter 5° C gewesen sein, es riecht nach Kohleofen, die Vorhänge des Zimmers sind zugezogen, die Frühlingssonne fällt hindurch. An diesem Wochenende wird, in diesem Zimmer in Bielefeld, die Welt ausgesperrt sein. Sie brennt zwar, aber das spielt keine Rolle – ein verliebter Nazi ist zwar immer noch ein Nazi, aber, wie alle Verliebten, zuallererst verliebt.
Es fällt mir leicht, durch die Widmung ihn zu sehen – ein wenig Soldatenromantik, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie in mir habe, ein wenig mein eigener Großvater, der als kaum Erwachsener der Anziehungskraft der Nazi-Ideologie nicht widerstehen konnte, sie dann aber angeekelt verwarf. Sie – ich nehme an, es ist eine sie – ist schwieriger. Der „Spatz“. In meiner Vorstellung, meiner Geschichte, hat sie ihm das Buch geschenkt, die Widmung geschrieben, obwohl es genauso gut auch umgekehrt hätte sein können.
Vielleicht ist sie eine der späteren Trümmerfrauen, arbeitet, während die Männer irgendwo an der Front sind, in Bielefeld in irgendeinem Industriebetrieb, Ich stelle sie mir auch jung vor, auch um die 18 oder 19, aber nicht jugendlich, nicht kindlich, mit einem harten Gesicht, Augen, die älter sind als der Rest von ihr, vielleicht.
Sie ist in diesem Buch, und der Widmung, ausformulierter, tritt eigenartiger in Erscheinung, ich muss meine Vorstellung von ihr um das Buch und die Widmung herumbauen.
Beide haben sich auf dieses Wochenende gefreut, darauf, die Fließbandarbeit, das Soldatsein, den Krieg, dieses ganze Europa, diese ganze Welt, hinter sich zu lassen, einfach zu zweit zu sein. Ihr Kleid, dunkler, rauher Stoff – etwas passendes für den kalten Frühling – und eine Menge dieser komplizierten alten Unterwäsche liegt neben der Uniform auf dem Boden des Zimmers. Beide verlassen das Bett nur für ein Frühstück am 29. und um Kohle nachzulegen. Beide bemühen sich, nicht daran zu denken, dass es ihr letztes Wochenende sein könnte, dass sie sich vielleicht nie wieder sehen, dass sie und ihre Beziehung eines von vielen Kriegsopfern werden könnte.
Ich frage mich, was die beiden mit dem Buch gemacht haben, welche Bedeutung es hatte – haben sie es sich vorgelesen, weil einer der beiden es zufällig dabei hatte? Hat sie es ihm vor dem Wochenende gekauft, als Abschiedsgeschenk? Was bedeutete es den beiden? Warum fiel die Wahl auf dieses? Der Hyperion-Verlag hatte viele dieser Miniaturbücher im Angebot. Warum ist es nichts beschauliches, urwüchsig deutsches geworden? Warum ausgerechnet amerikanischer Proto-Horror?
Das ist der Punkt, an dem ich nicht ganz weiter weiß. Ich weiß nur, dass die Geschichten von Poe eine eigenartige Wahl sind, als würde in diese ganze Romantik, dieses Wochenende, an dem die Welt ausgesperrt sein soll, diese Welt dann doch hineinsickern, in kleinen, unbemerkten Tröpfchen. Die drei Erzählungen in dem Buch sind Wassergrube und Pendel, eine Geschichte über Schuld, Folter und Gefangenschaft, Berenice, in der eine Frau lebendig begraben wird, wieder ausgegraben und der Erzähler ihr – in einer Art trauerndem Wahnsinn – die Zähne ausreißt und Die Maske des roten Todes, in der, während in der Außenwelt eine tödliche Krankheit umgeht, in einem Schloss ein dekadentes Kostümfest gefeiert wird, so lange, bis die Krankheit, als Mitfeiernder personifiziert, das Fest einholt. Der letzte Satz der Erzählung ist: „Und unbeschränkt herrschte über alles mit Finsternis und Verwesung der rote Tod.“ Es ist harter Stoff für ein romantisches Wochenende zu zweit auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs mitten in Deutschland.
Es kommt einem vor, als wolle sie, der „Spatz“, etwas damit sagen. Damit, dass sie ihm dieses Buch schenkt – in einem kleinen Reiseformat, soll er es an die Front mitnehmen? – damit, dass es eben diese typischen Poe-Erzählungen sind, die das dunkle Potential von Menschen erkunden. Als sei sie gedanklich – trotz des romantisches Wochenendes, der „2 schönen Tage“ – ganz woanders. Als wolle sie ihn, dem bald wesentlich schlimmeres passieren wird, einstimmen, vielleicht umstimmen. Zwischen der Widmung – und der Liebesgeschichte, die ich dahinter vermute – und dem Inhalt des Buches liegt eine gigantische Fallhöhe, so gigantisch, dass sie Absicht sein muss. Das Buch ist kein ausschließlich liebevolles Geschenk.
Hat er die Andeutung, die Idee, verstanden? Vielleicht, vielleicht nicht. Vielleicht wusste sie auch nicht so ganz, was sie eigentlich sagen wollte. 1942 wusste sicherlich auch keiner der beiden, wie hoch die Fallhöhe tatsächlich war oder noch werden würde. Vielleicht hat sie das Buch nur unbewusst besorgt, vielleicht hat etwas darin ihre dunklen Ahnungen angesprochen, und sie wollte es weitergeben, als eine Art, sie loszuwerden, darüber zu reden. Ich habe das Buch in einem Antiquariat in Hannover gekauft, ich vermute also, dass es, trotz der Reisegröße, nie eine Front gesehen hat. Aber sie – als Schenkende – rückt ein wenig in meinen Fokus. Ihn denke ich immer noch als leicht naiven, viel zu jungen Soldaten. Sie als entweder jemanden mit literarischer Bildung oder als jemanden mit einem feinen Gespür für Schwingungen, einem Sinn für die Welt. Jedenfalls als eine Frau, die schnell und leicht in eigene Abgründe und die Abgründe anderer eintauchen kann, sie spürt oder erkennt.
In diesem Zusammenhang wird die Widmung fast zynisch. Ich sehe die beiden auf dem Bett liegen, nackt, halb nackt, die Frühlingssonne scheint durch die Vorhänge, und sie wissen: Diese zwei Tage müssen schön werden, es geht nicht anders. Es könnten die letzten sein. Beide versuchen, das hinzubekommen, ihre eigenen Sorgen und Ängste auszublenden, nicht darüber zu reden, und wenn es jemals einen Anlass gab, etwas unausgesprochen zu lassen, dann ist es dieser – sich mit der Dunkelheit befassen, das können die beiden immer noch, wenn sie überlebt haben. Haben sie es geschafft? Oder nicht? Ich hoffe ja. Aber andererseits sehe ich sie in meiner Vorstellung auch auf diesem Bett, in diesem Zimmer, wie sie sich gegenseitig das Buch vorlesen, während unangenehmes Wissen, unangenehme Ahnungen und Vorahnungen in ihnen aufsteigen, sich dann umarmen, Wärme, Haut spüren, weiterlesen. Und sich – weil sie es eben müssen – versichern, dass es zwei schöne Tage waren. Und sie ihm die Widmung in das Buch schreibt, einfach, damit es irgendwo steht. Für sie beide die Geschichte, die sie sich über das Wochenende erzählen nochmal festklopft. Und beide liegen in der Nacht zu Montag wach, nebeneinander, um ja keinen ihrer letzten gemeinsamen Momente zu verpassen – mit Bildern aus dem Buch im Kopf und Angst vor der Dunkelheit, die vor und in ihnen liegt.
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