PenMarathon: Leben voller Literatur, Literatur voller Leben
Unser Autor Martin Spieß war als Teilnehmer beim georgischen Literaturwettbewerb PenMarathon. Eine persönliche Nachlese.
Ähnlich wie beim eigentlichen Wettbewerb fällt es mir auch jetzt schwer, den Einstieg zu finden. In Georgien hatte ich nur 24 Stunden Zeit für eine Idee und einen wie auch immer fertigen Text, hier einen Redakteur, der „gerne sobald wie möglich“ schrieb, einen Brotjob, dessen Pensum ich schaffen muss, vor allem aber Eindrücke aus vier Tagen Georgien, die eigentlich noch zu nah sind, als dass ich ihnen gerecht werden könnte. Eindrücke, die so groß und intensiv sind, dass sie es mir schwer machen, an mein früheres Leben anzuknüpfen, egal wie pathetisch das klingt. Es ist ein bisschen so wie bei Frodo, nachdem er am Ende von Die Rückkehr des Königs fragt: „Wie macht man weiter, wenn man tief im Herzen zu verstehen beginnt, dass man nicht mehr zurück kann?“
Am Anfang meiner Geschichte will ich eigentlich nicht los. Es geht mir psychisch schlecht, am liebsten will ich im Bett bleiben und Netflixen. Ich packe erst am Vormittag des Abflugs und vergesse dann auch noch den Schlüssel fürs Vorhängeschloss, mit dem ich den Koffer gesichert habe, in meiner Wohnung. Ich komme später als geplant am Flughafen an und stehe noch, als das Boarding eigentlich schon beendet ist, in der Schlange zum Check-In.
Wie macht man weiter?
Turkish Airlines aber scheint da recht locker drauf zu sein. Es wird geboardet und dann eben mit zwanzig Minuten Verspätung losgeflogen. Ich fliege über Istanbul, wo ich fünf Stunden Aufenthalt habe. Ich setze mich in eine Bar und trinke mich durch das lokale Bierangebot, weil ich die Wettbewerbsteilnehmer*innen aus Berlin nicht finde. Die und die anderen treffe ich erst am Gate; bis auf einen, der eine Stunde später in Tiflis ankommt, sind wir komplett: Sarah Berger, Thilo Dierkes, Simona Harmeinecke, Lasse Kohlmeyer, Sofie Lichtenstein, Sophie Sumburane und Jana Volkmann; Daniel Stähr treffen wir in Tiflis.
Dort werden wir von Zaza Shengelia begrüßt, einem Verlagsmitarbeiter des georgischen Diogene Verlags, und in eine Flughafenbar geführt, wo wir auf den letzten Teilnehmer warten. Zaza erklärt uns die Modalitäten des Wettbewerbs, wir plaudern, sind aber alle schon seit fast 24 Stunden auf den Beinen, sodass kein besonderes Gespräch zustande kommt. Oder ich erinnere mich nicht.
Bankett, Wein, Schreiben
Schließlich steigen wir in einen Bus und fahren dem Morgengrauen entgegen. Um halb sieben kommen wir in Marosheni an, einem Resort, das auf einem Hügel liegt. Kaum, dass der Bus angehalten hat, steigen alle aus und machen Fotos vom Kaukasus in der Morgendämmerung. Wir beziehen unsere Zimmer und ich falle in erholsamen Schlaf.
Am Nachmittag ist Begrüßung und ein Workshop, der – wie mir erst viel später klar wird – als Vorbereitung auf den Wettbewerb dient. Geleitet von Christiane Schmidt, einer deutschen Lektorin, und übersetzt von Maja Badridse, die uns während unseren gesamten Aufenthalts übersetzen wird. (Danke!)
Der Wettbewerb startet – nach einem Begrüßungsbankett, zu viel Wein und einer unschönen übergriffigen Situation mit einem georgischen Autor in der Nacht – am nächsten Tag. Wir bekommen einen Satz aus Hamlet – „Der Lüge Köder fängt den Karpfen Wahrheit“ – und müssen diesen zur Grundlage einer Geschichte machen.
Kein Laptop, kein Internet, keine Musik
Allerdings: ohne Laptop, ohne Internet, ohne Musik. Wir müssen unsere technischen Geräte abgeben, und ich frage mich, wie ich so weit außerhalb meiner Komfortzone schreiben soll. Den Laptop brauche ich für die Geschwindigkeit des Schreibens, für die Möglichkeit des nichtlinearen Schreibens: Absätze verschieben, umstellen, löschen, Dramaturgie verändern. Das Internet benutze ich als Recherchetool: Das Zitat aus Herr der Ringe am Anfang dieses Texts hatte ich nicht wortwörtlich in Erinnerung, ich hätte es ohne Internet nicht so ohne Weiteres gefunden. Und Musik auf den Ohren hilft mir sowohl, mich gänzlich auf die Geschichte einzulassen als auch abzuschweifen, wenn ich mal nicht weiterkomme.
Hier ist das alles anders. Wir schreiben mit der Hand. Irgendwann finden sich die anderen deutschen Autor*innen und ich uns zu Gruppen zusammen und sind einander Recherchetool, Formulierungshilfe und Thesaurus. Es gibt keine Spur von Konkurrenzdenken, es geht am Ende nur um gute Literatur. Und wo wir am gestrigen Abend während des Banketts bereits erste heftige Bande geknüpft haben, schließen wir bei dieser außergewöhnlichen literarischen Erfahrung Freundschaften. Ich habe wohl noch nie in so kurzer Zeit acht andere Menschen so kennen und mögen gelernt. Die Umstände aber tun ihr Übriges: die Georgier*innen sind ausnahmslos alle überglücklich, dass wir hier sind, und lassen uns das immer wieder wissen. Wann immer wir uns für Essen, Trinken oder Zigaretten bedanken, für Bewirtung, Herberge oder Wettbewerb, kommt zurück, dass sie viel dankbarer seien. Eine solche Gastfreundschaft und Herzlichkeit habe ich noch nie erlebt.
Deutsch-georgische Freundschaft
Um halb fünf morgens bin ich mit meiner Geschichte fertig, zumindest so weit, dass ich sie am nächsten Tag nur noch ins Reine schreiben und abgeben muss. Nach vier Stunden Schlaf stehe ich auf, trinke einen Kaffee nach dem anderen und mache mich ans Abschreiben. Vorher lese ich die Geschichte noch einmal und bin tatsächlich immer noch irgendwo zwischen zufrieden und sehr zufrieden damit, mache mir aber keine Illusionen darüber, wie viel besser (anders?) sie außerhalb dieser Schreibsituation geworden wäre.
Am Nachmittag machen die, die wollen, einen Ausflug nach Sighnaghi, die „City of Love“, ein beliebter Ort zum Heiraten und für Tourist*innen. Von einer alten Kirche hat man einen unglaublichen Ausblick ins Tal.
Am Abend gibt es das zweite große Bankett. Ich werde unfreiwillig zum Tamada, dem georgischen Tischredner, den jeder Tisch hat, und der, wann immer ihm ein Gefühl kommt, angehalten ist, für einen Trinkspruch aufzustehen – und der, wenn einer der anderen Tamadas einen Trinkspruch ausspricht, mitaufstehen muss. Es wird wiederholt auf die Literatur getrunken, auf den Gründer des Wettbewerbs, auf die deutsch-georgische Freundschaft. Mittlerweile sind auch wir Deutschen unter sich – so zumindest mein Gefühl – brothers and sisters from another mother geworden. Wir sind so vertraut, wie ich es sonst nur bei jahrelangen Freundschaften kenne, und alles, was es braucht, scheint die gemeinsame Erfahrung einer fremden Kultur und das gemeinsame Feiern von Literatur zu sein. (Das, und massenweise Wein und Kippen.)
Lasst uns noch hierbleiben
Am nächsten Tag – nach wieder nur vier oder fünf Stunden Schlaf und mit einem Kater – verlassen wir Marosheni. Einer von uns bringt es auf den Punkt: „Ich würde am liebsten noch eine Woche mit euch zum Chillen hierbleiben.“ Wir verbringen ein paar Stunden in Tiflis, bummeln durch die Altstadt und fahren dann weiter zu einer alten Kirche, in der der Sage nach ein Stück vom Kreuz sein soll, an dem Christus gekreuzigt wurde. Nach einer Bootsrundfahrt geht es zum dritten und letzten Bankett in einem georgischen Restaurant, wo wieder viel Wein getrunken wird und viele Tischreden gehalten werden. Und natürlich wird wieder gut gegessen: Tomaten mit Petersilie, gefüllte Auberginen, Spinatpaste, Schwein in Estragonsoße, Chatschapuri (mit georgischem Käse gefülltes, frittiertes Weißbrot), Hühnchen in Sahnesoße, eingelegte Paprika, scharfe Chilis, Pilze, Schafkäse und vieles mehr, an das ich mich nicht erinnere.
Um kurz nach Mitternacht müssen wir uns auf den Weg zum Flughafen machen, weil unser Flug um kurz nach 4 Uhr geht. Wir verabschieden uns von den Georgier*innen und versprechen, dass wir wiederkommen – und einige von ihnen auf der Frankfurter Buchmesse sehen werden.
Manche Erfahrungen sind zu groß
Der Flug nach Istanbul hat Verspätung, weshalb ich mich – anders als geplant – nicht von allen mit Herzen und Küssen verabschieden kann, sondern zu meinem Gate rennen muss. Es ist komisch: vor dem Abflug war es ganz natürlich alleine zu sein, alleine zu fliegen und zu trinken. Jetzt sitze ich im Flieger und fühle mich dumpf.
Und jetzt, während ich diesen Text schreibe, noch dumpfer. Als habe dieser Aufenthalt etwas mit mir gemacht. Etwas Großes, Lebensveränderndes. Das Zitat von Frodo geht weiter mit: „Manche Dinge kann auch die Zeit nicht heilen, manchen Schmerz, der zu tief sitzt und einen fest umklammert.“
Ich kann ihn verstehen, denn gerade herrschen Schmerz und Wehmut vor: Wenn ich einkaufe, übersetze, joggen gehe, Kaffee trinke. All das fühlt sich seltsam hohl an, nach diesen vier Tagen, die so intensiv waren wie kaum etwas zuvor in meinem Leben.
Ich würde allerdings auch sagen: Manche freudigen Erfahrungen sind zu groß, als dass man danach einfach zurück kann. Man wird fest umklammert von den Erinnerungen an all die lieben Menschen, die einen berührt und gerührt haben. Oder in einem Wort: Danke.
Über den PenMarathon berichten außerdem die teilnehmenden Autorinnen Sophie Sumburane, Sofie Lichtenstein und Jana Volkmann.
Bildquellen
- Sighnaghi_2_beschnitten: Martin Spieß
- Wein: Martin Spieß
- Essen 3: Martin Spieß
- Wir in Tiflis: Martin Spieß
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