#RIPTwitter – Twitter arbeitet an seiner Abschaffung
Auch wenn Twitter stets als „populärer Kurznachrichtendienst“ tituliert wird, war es in Deutschland außerhalb der sogenannten Medienelite nie wirklich populär. Und auch im Rest der Welt muss sich Twitter, zumindest was die Gewinne angeht, Facebook geschlagen geben. Das finden seine Investoren nicht gut.
Twitter hat spezifische Situationen und Bereiche, in denen es sehr gut funktioniert. Bei der Verfolgung von Ereignissen in Echtzeit ist Twitter dem zähen Facebook um Meilen voraus. Auf Twitter findet man nach Sekunden Informationen zu einem Ereignis das just passiert ist. Wie es um die Qualität Informationen dann bestellt ist, sei mal dahingestellt, fest stehe: Twitter ist das perfekte Echtzeit-Massenkommunikations-Medium. Facebook hat sich diese Nische durch sein beharren auf Filtern und algorithmischer Befütterung der User verbaut. Twitter war da kompromisslos: Oben ist, was neu ist. Im Lauf der Zeit gab es aber auch da – akzeptable – Kompromisse, beispielsweise die Möglichkeit zu wählen ob man in Suchen die Top-Tweets oder die neusten sehen will, oder die Funktion, die aktuellen Trending Topics personalisieren zu lassen.
Der im Oktober bekannt gewordene Plan Tweets von mehr als 140 Zeichen zuzulassen wirkte daher schon wie ein Affront. Das definierende Feature von Twitter mit Füßen zu treten, und den Dienst damit nach einer Variante von Facebook aussehen zu lassen, klingt nach keiner guten Idee. Die Verlängerung der Tweets soll wohl ein Versuch sein neue User zu ködern. Die Zeichenbeschränkung schreckt viele User ab, 140 Zeichen erscheinen vielen als zu wenig für sinnvolle Kommunikation.
Jetzt, so munkelte man schon letzte Woche, wird Twitter auch von der Praxis der chronologischen Sortierung Abstand nehmen und algorithmisch sortierte Tweets auflisten – immerhin mit der Möglichkeit zur chronologischen Timeline zurückzukehren. Die Nutzer reagieren mit Recht höchst aufgebracht und verkünden den Untergang: #RIPTwitter.
https://twitter.com/twitter/status/697420917253668868
Twitters großer Erfolg basierte immer darauf, dass jeder Tweet erstmal gleich behandelt wird. Was dann daraus wird, entscheiden die User und die Zeit, kein Algorithmus. Theoretisch ist also jeder Tweet für jeden Menschen zu jeder Zeit erst einmal auffindbar. Twitter-Gründer Jack Dorsey widersprach dem Bericht kurz darauf, jedoch nicht so eindeutig wie man sich das vielleicht wünscht. Eine komplette Umsortierung der Timeline käme nicht in Frage. Jedenfalls nicht nächste Woche.
Hello Twitter! Regarding #RIPTwitter: I want you all to know we're always listening. We never planned to reorder timelines next week.
— jack (@jack) February 6, 2016
Mit dem Schritt zur vollständigen algorithmischen Wertung würde Jack Dorseys Unternehmen das Egalitätsprinzip endgültig ruinieren. Ein erster Schritt in diese Richtung war bereits die Einführung verifizierter Accounts. Eigentlich erfunden um Parodie- oder gefälschte Accounts durch Nicht-Verifizierung kenntlich zu machen, haben die Tweets der verifizierten Accounts in der Entscheidung, was gerade als Trend gewertet wird, eine höhere Wertigkeit. Das ist schon das Ende der Chronologie und der Anfang der Timeline.
Verließe Twitter sich endgültig auf Trends, würde es damit aus dem egalitären Prinzip ein elitäres machen. Tweets von verifizierten Accounts und damit erfolgreicheren Twitterern werden dann wahrscheinlich eine höhere Sichtbarkeit ermöglicht als denen von neuen Usern, die gerade frisch drei Follower haben. Publikum zu finden wird immer schwieriger und der User verlässt enttäuscht den Ort des Geschehens. Twitter kann durch eine Umstellung nur verlieren, das ist offensichtlich. Die Welt braucht kein zweites Facebook, in dem nur noch bezahlte Tweets und lustige Bildchen, die ohnehin von allen geteilt wurden, erfolgreich, weil sichtbar, sind. Personalisierte Werbung und Konsenspampe als Viralität, die sich an der Followerzahl der User entscheidet, sind nicht das, was Twitter erfolgreich gemacht hat. Twitter muss so bleiben wie es ist, um eine Existenzberechtigung zu haben.
Facebooks Timeline funktionierte auch viel besser, als sie eben nur eine echte Timeline – ein Zeitstrang – war. Die heutige gefilterte Timeline generiert nur langweilige Monokultur. Ich will sehen, was ich nicht sehen soll: Die blöden Meinungen meiner Facebookfreunde, die AfD wählen, sehen, all die süßen Tierfotos, die ranzigen Memes von Seiten wie Ob du behindert bist hab ich gefragt und die ganzen sexistischen Kacksprüche die von gutmeinenden Frauencommunitys geteilt werden. Nicht weil ich sie gut finde, sondern weil ich dann versichert sein kann, dass all das im großen Fluss der Zeit sofort untergeht, und dass das dumme Zeug keine beständige Relevanz hat. Diese Versicherung gibt mir Twitter. Nicht weil ich sie gut finde, sondern weil eine zeitbasierte Ordnung der Realität der Dinge mehr entspricht und ich außerdem nicht Gefahr laufe, mit meinen Freunden in unserer eigenen Konsenssuppe weichzukochen.
Sonntagsmorgens trendet „Schönen Sonntag“
Sonntagsmorgens trendet immer „Schönen Sonntag“. Unabhängig davon, ob Frauke Petry möglicherweise ein Rezept für gebratenen Syrer in ein Mikrofon diktiert hat. Es sind solche Momente, in denen Twitter seine geballte Macht entwickelt. Die Momente, in denen alle auf ein Thema fokussiert sind. Von Germanys Next Topmodel bis zu den Anschlägen von Paris: Twitter ist der Ort, an dem man live dabei ist. Fernsehen und andere Websites liefern nur den Content, der kommentiert wird. In solchen Momenten kommt Facebook mit seinem Filter nicht hinterher und sorgt höchstens dafür, dass ich erfahre, dass 20 Freunde die Eilmeldung vom Spiegel geteilt haben. Auch die Einführung von Hashtags auf Facebook haben daran nichts geändert. Ich kann mich nicht daran erinnern die Hashtag-Funktion je benutzt zu haben – zumindest nicht über einen Test nach der Einführung hinaus.
Im Rest der Zeit ist Twitter nur ein großer Pool von vor sich hintreibenden Zoten und Linkempfehlungen. Aber das macht den Twitter-Feed so schön: Er geht einfach immer weiter und weiter. Das hat Jack Dorsey zum Glück auch verstanden:
Twitter can help make connections in real-time based on dynamic interests and topics, rather than a static social/friend graph. We get it.
— jack (@jack) February 6, 2016
In Deutschland scheint es Twitter besonders schwer zu haben. Die erfolgreichen User aus Deutschland wirken wie eine eingeschworene Gemeinde, der man zusieht, und die nur alle paar Jahre jemanden aufnimmt. Aber sie wirkt nur so. In Wahrheit sind die knapp 900.000 deutschen Twitter-User schlicht viel zu wenig dynamisch um dafür sorgen zu können, dass mal jemand an den Schwergewichte wie Kathrin Passig, Micky Beisenherz, Mario Sixtus, Sascha Lobo, ProSieben und NeinQuarterly vorbeitwittert. Die Liste der wirklich einflussreichen und relevanten Twitterer in Deutschland ist vermutlich nur 50 Accounts lang.
Warum Twitter in diese Richtung geht? Risikokapitalgeber und Anleger wollen, dass Twitter Rendite abwirft. Mehr als eine halbe Milliarde Dollar an Verlusten hat Twitter letztes Jahr gemacht . Mehr und mehr Werbung hat man im Lauf der Zeit in die Twitter-App gepumpt, wohl aber noch nicht genug, oder die Werbemaßnahmen greifen nicht ausreichend. Inzwischen ist Twitter weniger wert als die Kollegen von Pinterest oder Snapchat. Dazu passt der Versuch, mit der Aufhebung der 140-Zeichen-Grenze User anzulocken, denn dann kann man die Werbeplatzierung teurer verkaufen. Die Hoffnung, wie Facebook dafür sorgen zu können, sich nennenswerte Reichweite immer bezahlen zu lassen, treibt vielleicht eine Umstellung auf algorithmisch sortierte Tweets an. Ein Prinzip jedoch, das für mich dazu führte, Facebook als ein primäres Informationsmedium aufzugeben, und mich lieber auf reddit zu verlassen. Dort wird Relevanz nämlich noch von den Usern bestimmt und nicht von Werbepartnern und Algorithmen.
https://twitter.com/twitter/status/507816092?s=09
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