Saufen in Zeiten von Corona: Es nervt
Das private Zoom-Meeting mit dem Weinglas in der Hand? Gerade in der Coronakrise lohnt es sich, nüchtern zu bleiben. Für sich selbst und andere.
Die Coronakrise fördert Verborgenes zutage. Ach, Homeoffice ist plötzlich doch möglich? Für Konzerne wie Adidas steht nicht die Solidarität an erster Stelle? Nicht wahr! Kartenzahlung beim Bäcker? OMG! Der Pflegenotstand und die schlechten Löhne rächen sich an uns allen? Ach!
Was die Krise aber auch zeigt: Die Trinkgewohnheiten unserer Mitmenschen, wenn soziale Korrektive wegbrechen.
Seien es amerikanische Talk Show Hosts, die eine Flasche Gin im Schreibtisch haben, seien es Tweets von Comedians, die die akzeptierte Day Drinking Zeit auf 11 Uhr morgens verlegen wollen oder eine endlose Aneinanderreihung von Memes: Kinder zuhause? Wein! Langeweile? Wein! Emotionaler Stress? Wein!
Eines scheinen wir dabei zu vergessen: Alkohol ist ein Nervengift. Ein Familienzerstörer. Ein Depressivum. Ja, das klingt jetzt krass nach Moralapostel. Aber ich weiß, wie es ist, Alkohol auf seine Angst zu kippen. Ich habe es wirklich, wirklich probiert und habe herausgefunden: Es hilft nicht (Ja, fand ich auch scheiße).
Ein beständiges Brummen, das lauter wird
Erst nachdem ich nüchtern geworden bin, habe ich gemerkt, was das regelmäßige Trinken eigentlich mit mir gemacht hat; wie so ein ständiges Brummen des Kühlschranks, das man erst bemerkt, wenn es aufhört. Und dann atmet man ganz automatisch auf. Dieses Brummen bestand aus einer latenten Traurigkeit, einer Fixierung auf Feierabendgetränke und einem inneren Konflikt, gleichzeitig weniger und mehr trinken zu wollen. Wie alle, die mal abhängig waren, bin ich sensibel für dieses Brummen im Leben anderer. Aktuell höre ich es überall in der Welt – und es wird lauter.
Was wir gerade global über die sozialen Netzwerke kultivieren, wurde in jeder Stammkneipe der Welt perfektioniert, und man kann es immer beobachten, wenn zwei oder mehr Trinker*innen zusammenkommen: Das kollektive Aushandeln, was okay ist. Dieses Collective Bargaining klingt immer ähnlich, egal an welchem Punkt der Alkoholgewöhnung jemand steht.
Es sind Sätze wie “Komm noch eins”, die in ein Gruppengefüge fallen, in dem alle sich heimlich Sorgen machen und einander dazu verwenden, diese Sorgen zu lindern. Klar, ein bisschen aufpassen, klar, das muss man ja immer. Gerade eben ist es etwas mehr, aber das wird auch wieder weniger. Ich bin ja kein Alkoholiker. Haha, ein bisschen gepflegter Alkoholismus muss ja wohl noch okay sein! XY, bei dem würde ich mir Sorgen machen, aber bevor es so krass ist, würde ich ja aufhören. Bevor ich mittags anfange, würde ich ja aufhören. Ich meine, regelmäßig mittags zu trinken? Dann hätte ich ein Problem. Gerade ist ja Corona und Ausnahmezustand, da ist es doch wohl ok, das mal zu machen. Aber die Norm sollte das nicht werden.
Während der Coronakrise bekommen wir das schlechteste aus beiden Welten: Die soziale Absicherung, dass der eigene Konsum gerade auf jeden Fall in Ordnung ist bei gleichzeitiger Isolation.
Eine zweite Realität, in der ich trinke
Ich sehe mich in einer alternativen Realität, in der ich noch trinke: Dort kaufe ich mir Wein auf Vorrat. Dort denke ich immer wieder daran, was ist, wenn der Vorrat leer sind. Ich sehe, wie dank des Home Office und des Wegbrechens des sozialen Korrektivs die Uhrzeit des ersten Drinks immer weiter nach vorne rückt. Und ich spüre den inneren Kampf um das Ja oder Nein. Ich sehe, wie ich mich morgens aus dem Bett pelle und dumm unter der Dusche stehe, der Kopf schwer von gestern. Ich sehe, wie das Trinken eine neue Qualität bekommt, weil ich es regelmäßiger tue und immer allein. Ich brauche dringend irgendwas aus dem Supermarkt, womit sich dann auch rechtfertigen lässt, noch eine Flasche Wein mitzunehmen, naja wenn ich eh gehe.
Ich trinke gegen Einsamkeit an und gegen Panik und gegen Langeweile – und mache alles davon noch schlimmer. Vielleicht ruft mich am Nachmittag eine Freundin an, die emotionalen Support braucht. Ich gehe nicht ran, weil es mir peinlich wäre, wenn man den Alkohol durch meine Stimme hört. Ich sage mir, dass ich morgen Mal aussetze, aber dann ist Morgen, und um 17 Uhr denke ich “Scheiß drauf”.
Ich mache Witze über Wein im Internet und werde von anderen dafür gefeiert. Wir reihen uns ein in die Witzigkeit des kollektiven Verhandelns, was gerade gesellschaftlich okay ist. Gerade sind wir schließlich alle Alkoholiker, haha!
Eigentlich die perfekte Zeit für Nüchternheit
Dabei wäre jetzt eigentlich die perfekte Zeit für Nüchternheit. Seit das beständige Brummen des Alkohols in meinem Leben weg ist, habe ich weniger Angst. Mein Normalnull ist höher und mein Tief ist weniger tief. Ich spüre mehr von meiner Wirksamkeit in der Welt. Ich kann klarer Grenzen setzen und entsprechend besser für andere da sein. Das sind alles Fähigkeiten, die in der Isolation und im Krisenmodus durchaus hilfreich sein können. Stattdessen reden wir darüber, wie geil Saufen ist.
Ausgenommen davon ist die kleine, aktive nüchterne Bubble, die man im deutschen Internet finden kann (wenn man nach ihr sucht). Es sind vor allem ein paar Bloggerinnen (eine davon bin ich), einige anonyme Accounts oder auf privat gestellte Selbsthilfegruppen auf Facebook. Und vielen von ihnen brechen die unterstützenden Mechanismen weg: Selbsthilfegruppen finden nicht statt, Reha-, und Therapieprogramme werden verschoben und die üblichen, mühsam gelernten Mechanismen zum Überwinden von Suchtdruck stehen nicht zur Verfügung.
Komm in die Bubble
Angst, Unsicherheit, Machtlosigkeit und Stress – all das sind Trigger für das Bedürfnis zu Trinken. Verbunden mit den Mechanismen des Collective Bargainings und der Isolation ist das eine eklige Mischung.
Ich will überhaupt nicht mahnen, dass man keine Witze mehr übers Saufen machen darf (auch wenn sie für mich ihre Funktion verloren haben). Aber frag dich vielleicht, ob gerade wirklich jedes private Zoom-Meeting mit einem Drink in der Hand stattfinden muss. Falls du Menschen kennst, die in Recovery sind: Frag Mal nach, wie es ihnen geht, und ob sie dabei unterstützen kannst, nüchtern zu bleiben. Und wenn du selbst das Gefühl hast, dass dein eigener Konsum dich überrennt, komm zu uns in die nüchterne Bubble. Hier auf der anderen Seite ist es ruhiger, klarer und selbstbestimmter – ganz ohne das beständige Brummen.
Mika betreibt den Blog www.richtignice.com in dem es um das Nüchternwerden und alkoholfreie Leben geht – ohne stigmatisierende Labels und ohne die Gesellschaft aus der Pflicht zu entlassen. Du findest sie auf Instagram unter @_richtig_nice und kannst ihr schreiben: mika@richtignice.com.
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