Tempus fugit – Deutsch für Fortgeschrittene – The Sun Always Shines On TV
Deutsch ist eine komplizierte Sprache. Bahn, Fußball und Fernsehen machen es uns damit auch nicht einfacher findet Mathias Mertens in seiner Fernsehkolumne. (4. November 2001)
Beim Warten auf das pünktlichste Verkehrsmittel Deutschlands hat bestimmt jeder schon einmal eine Ansage wie die folgende gehört: „Achtung auf Gleis 5! Es hat nun Einfahrt der Nahverkehrszug 586 von Gelnhausen in Richtung Frankfurt. Abfahrt war 17:55 Uhr.“ Menschen, die nicht von klein auf mit der deutschen Sprache und Kultur aufgewachsen sind und die noch ein stärkeres Gespür für eigentliche Wortbedeutungen haben, werden bei einer solchen Information sicherlich ins Grübeln kommen. Denn wenn die Abfahrt des Zuges schon um 17:55 Uhr war, wie es ja auch auf dem Fahrplan steht, wie kann er denn jetzt zwanzig Minuten später erneut in den Bahnhof einfahren? Und warum haben sie, die sie doch seit dreißig Minuten auf diesem zugigen, schlecht beleuchteten Bahnsteig stehen, diese Abfahrt um 17:55 Uhr gar nicht mitbekommen? Die Präteritum-Form des Verbs „Sein“ bedeutet doch, daß etwas tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt existierte oder passierte. Daß die Aussage „Abfahrt war 17:55 Uhr.“ im Deutschen auch bedeuten kann „Die Abfahrt hätte um 17:55 Uhr sein sollen, kann aus deutsche-bahn-ag-üblichen Gründen allerdings mal wieder nur zwanzig Minuten später stattfinden.“ wird einem Nicht-Muttersprachler erst nach einigen Jahren Erfahrung mit der deutschen Kultur verständlich.
Eine andere Irritation kann beim Zuschauen deutscher Fernseh-Fußball-Berichterstattung auftreten, insbesondere beim Interview von Spielern, Trainern oder sonstigen Verantwortlichen. Bei den verschwitzten Statements direkt nach Spielende wird der Mittelfeldregisseur beispielsweise gefragt, ob das Ergebnis (Niederlage seiner Mannschaft) den tatsächlichen Spielverlauf widerspiegele. Der Spieler drückt auf seinen in DFB-Rhetorik- und Kameratrainings-Seminaren installierten Phrasenknopf und antwortet: „Wir hatten echt Pech. Vor der Halbzeit, der Tobi steht allein vorm Tor. Geht der Ball rein, steht es 1:0 und das Spiel sieht ganz anders aus.“ Auch hier muß man sich mal in die Lage eines Deutschschülers versetzen. Die betreffende Szene hat doch schon vor über einer Stunde stattgefunden. Warum wird hier, anders als beim einfahrenden Zug, so geschildert, als ob es gerade passiert? Zudem in gänzlich unhypothetischer Weise? Warum muß man so unverständliche Sachen wie den deutschen Konjunktiv lernen, wenn die Menschen ganz anders sprechen und statt „Wenn der Ball reingegangen wäre, hätte es 1:0 gestanden“ die schlichte Aussage „Geht der Ball rein, steht es 1:0“ verwenden.
Nun, es ist einigermaßen kompliziert, dem Nicht-Muttersprachler die Herkunft des sogenannten „Fußballer-Präsens“ einigermaßen nachvollziehbar zu schildern. Denn er weiß ja nichts von der nur in deutschen Schulbüchern vorkommenden Schreibregel, daß man an Stellen, wo es im Text spannend wird, vom Erzähl-Präteritum auf das Präsens schwenken muß, um das Geschehen sehr lebhaft und unmittelbar rüberzubringen. Daß außerdem die Fußballer aufgrund von Zeitmangel wegen Training und Fahrten zu Auswärtsspielen nach der Schule nicht mehr dazu gekommen sind, sich in die Buchmeter neuerer deutscher Literatur einzuarbeiten, um festzustellen, daß niemand, der etwas auf sich hält und von dem etwas gehalten wird, dieses Regel tatsächlich befolgt. Und daß außerdem der Konjunktiv nur noch in der Satzeinleitung „Ich würde mal sagen, daß“ verwendet wird, was zusätzlich verwirrt, weil man danach tatsächlich etwas sagt, obwohl der Konjunktiv doch ein Nichtvorhandensein einer Aussage anzeigt. Weil das alles so kompliziert ist, wird der Nicht-Muttersprachler in seiner Irritation alleingelassen, wo er aufgrund der empirischen Daten neue Tempus- und Modalitäts-Regeln für das Deutsche konstruiert: 1. Das nicht regelgemäße Stattfinden einer Handlung in der Gegenwart wird mit dem einfachen Präteritum angezeigt; 2. Das Nicht-Stattgefundenhaben einer Handlung in der Vergangenheit wird mit dem einfachen Präsens angezeigt; 3. Das regelgemäße Stattfinden einer Handlung in der Gegenwart wird mit dem Konjunktiv II angezeigt.
Letzteres kann man hauptsächlich in Nachmittags-Talksendungen oder bei Meinungsumfragen in der Fußgängerzone erleben. Dort erlebt der Nicht-Muttersprachler auch noch weitere Irrealitäten des deutschen Aussagesatzes. Nicht nur, daß die Menschen sagen würden, was sie sagen, sie geben auch verwirrende ontologische Erklärungen zu ihren Aussagen ab. Lautet die Frage des Interviewers zum Beispiel „Was ist ihre Meinung zur Riesterschen Rentenreform“, dann ist eine typische Antwort „Das ist doch die reine Abzocke. Ist meine Meinung. Wenn sie mich fragen.“ Für uns, die wir jahrzehntelang damit aufgewachsen sind, nicht weiter auffällig, aber hören wir doch mal mit den eindimensionalen Ohren eines Deutschschülers, was für eine Logik in dieser Replik steckt. Es begegnet uns der durch das Fußballer-Präsens ersetzte Konjunktiv, so daß der Satz korrekt formuliert heißen müßte: „Wenn sie mich fragten, würde ich die Meinung vertreten, daß das die reine Abzocke sei.“ Nun ist die betreffende Person aber tatsächlich gefragt worden. Warum diese nachträgliche Aufforderung zur Befragung? Außerdem ist in der Frage explizit darauf hingewiesen worden, daß es um die Meinung des Befragten geht. Warum kennzeichnet der Befragte seine Antwort noch einmal mit dem Attribut „Ist meine Meinung“? Wäre es sonst nicht zu erkennen? Würde man sonst denken, daß die Person einfach nur nachplappert, was sich auch Millionen anderer Menschen durch die Bild-Zeitung einbläuen lassen? So daß dieser Nachsatz eine notwendige Kennzeichung der Originalität der Aussage darstellt? Man weiß es nicht genau. Hier ist weitere linguistische Forschung gefragt.
Der Vogel wird aber abgeschossen, wenn die selben Menschen in den Talkshows ihre Geschichten erzählen müssen. Der Zufall, der dazu führte, daß zwei Personen sich in einem Restaurant begegnet sind, wird dort so beschrieben: „Ich hatte noch ein bißchen Hunger gehabt und war deshalb in das Restaurant gegangen. Als ich dann so am Essen war, hatte sie dann vor mir gesessen.“ Eine einfache Handlung in der Vergangenheit wird durchgängig mit dem Plusquamperfekt, also der Vorvergangenheit angezeigt. Warum dieses? Neben einem einfachen Präteritum könnte hier doch höchstens eine Zeitverschiebung durch die Fußballer-Präsens-Regel erfolgen, wenn die Begegnung im Restaurant nur ein Wunschtraum gewesen wäre. Aber in die Vorvergangenheit? Ein psychologische Erklärung könnte sein, daß die schildernden Personen sich so mit dem vergangenen Geschehen identifizieren, daß sie sich als Berichterstatter selbst in der Vergangenheit wähnen. Da Erzählungen aber gewöhnlich als etwas Abgeschlossenes begriffen werden, das Präteritum aber schon durch die eigene Berichterstatterposition besetzt ist, bleibt nur das Plusquamperfekt, um noch vergangener zu werden. Trotzdem ist es seltsam. Die umgangsprachlichen Bildungsregeln des Deutschen sind doch sonst eher auf Vereinfachung angelegt, siehe Fußballer-Präsens oder Bahn-AG-Präteritum, da ist die Wahl einer so umständlichen Zeitform wie des Plusquamperfekt doch sehr überraschend.
Man stelle sich vor, die Menschen würden mit derselben Logik auch den Rest ihrer Ausführung gestalten. Dann müßten sie auf die Frage des Talkmasters, wie sie sich denn im Moment gerade fühlen, zum Futur II greifen und sagen „Im Moment werde ich mich schlecht gefühlt haben.“ Ist unsere Meinung. Wenn Sie uns fragen. Das machen die Menschen dann aber nicht. Warum eigentlich? Wie sollen wir das unseren deutsch-lernenden Mitbürgern klar machen? Hier ist einer der Hauptgründe für die Verständnisprobleme zwischen den verschiedenen Kulturen in unserer multikulturellen Gesellschaft zu sehen. Während unsere ausländischen Mitbürger nämlich Satzbau, Zeit- und Modalformen an Texten von Thomas Mann oder Heinrich von Kleist gelernt haben, konfrontieren wir sie mit Schilderungen, die wie die folgende klingen müssen: „Im letzten Jahr war mir folgendes passiert: Ich war ins Restaurant gegangen, um mich mit Petra zu treffen. Unser Treffen war um 12 Uhr, deshalb war ich sauer gewesen, als sie erst um 13 Uhr aufgekreuzt war. Kommt sie pünktlich, ist meine Laune besser. So aber hatte ich nur vor mich hingestarrt. ‚Was fühlst Du?’, fragte sie mich. ‚Ich würde Dich lieben, würde ich sagen, wenn Du mich fragst,’ sagte ich. ‚Ist mein Gefühl. Wenn ich fühle.’ Dann hatten wir uns geküßt.“ Damit die von der CDU geforderte Integration also stattfinden kann, müssen Kleist und Mann von den Lehrplänen der Goethe-Institute und Volkshochschulen gestrichen werden, und durch Vera am Mittag– und Peter Imhoff-Sendungen ersetzt werden. Für linguistisch Interessierte Deutschschüler sei die Lektüre des Gesamtwerks von Eckhard Henscheid empfohlen (Achtung: Inkongruenz!).
Bildquellen
- The sun always shines on tv: Mathias Mertens