The Future Bites: Zu Prog Rock kann man jetzt auch tanzen!

Prog Rock gefällig? Unser Autor arbeitet sich an The Future Bites von Steven Wilson ab. Und findet Prog-Rock-Pop mit Einkaufslistenballaden.

Okay, das erste Highlight 2021: The Future Bites, das neue Album von Steven Wilson. Und um auch nicht Eingeweihten dieses Album schmackhaft zu machen: Steven hat Sir Elton John als Gastmusiker gewinnen können. Wobei auch „Musiker“ falsch ist. Elton John ist zwar auf der Platte zu hören, aber er singt nicht und er spielt auch kein Piano. Nein: Im Song Personal Shopper liest er eine Einkaufsliste vor. Ich wiederhole: Elton John singt nicht und spielt kein Piano, er liest einfach EINE FUCKING EINKAUFSLISTE vor! Schon dafür lohnt sich das Album.

Aber nun zur Musik: Steven Wilson ist eigentlich eine Koryphäe des zeitgenössischen Progressive Rock. Also für Leute (das Wort „Boomer“ erspare ich mir), die in Pink-Floyd-Bettwäsche schlafen und Phil Collins dafür hassen, dass er aus Genesis eine Pop-Band gemacht hat. Denn mit seiner früheren Band Porcupine Tree spielte er Musik, die zuckersüß und melodisch klingen konnte: aber sich nicht scheute, komplex zu sein, viele Umwege zu gehen, ausufernd und -nun ja- auch immer etwas exaltiert und pathetisch war. Nicht wenige meinten, dass er gern auch mal mit seinen Songs einen Schwenk zu viel nahm, um sich in langen Jam-Sessions zu verlieren.

Steven Wilson machte also Musik für Menschen, die mit einer 7seitigen Gitarre oder einem 6seitigen fretless Bass schlafen gehen und die Wörter „virtuoses Gefrickel“ neben einem surreal entfremdeten Herz auf ihrem Oberarm tätowiert haben. Nun hat Steven aber etwas getan, was diese Zielgruppe eher nicht so mag (aber sich schon auf den letzten Alben andeutete): ein astreines und zeitgenössisches Pop-Album aufgenommen. Zudem eine Synthie-Pop-Album. Und POP wird hier groß geschrieben. Ein Album, man muss das so sagen: zu dem man tanzen kann!

https://youtu.be/z922by9_6Fw

Das alles ist nicht neu. Prog Rock wird von Disco überfahren: YES taten es im Jahr 1983 mit 90125. Bands wie Archive oder Pure Reason Revolution taten das auch. Nur wird das von den Fans nicht immer goutiert: Letztgenannte Band kosteten die Ausflüge in Electro-Gefilde beinahe die Karriere, weil die Pink-Floyd-Bettwäsche-Fraktion eben nicht unbedingt Electro hören will. Das ist wirklich sehr schade: Wissen wir doch alle, dass auch Pink Floyds Another Brick in the Wall ein geiler Disco-Stomper war.

Und so spalten sich auch am neuen Album von Steven Wilson die Geister: bei Amazon ist von Höchstwertung bis ein mickriger Punkt alles dabei. Der Vorwurf: Ausverkauf. Jetzt macht der Popmusik, bäh! Pink Floyd goes ABBA.

Aber: Es ist eben ein verdammt gutes Pop-Album. Und da kommen wir zu einem weiteren Vorurteil: nämlich, dass Prog-Musiker mit ihrer Frickeligkeit ja nur kaschieren wollen, dass sie keine Songs schreiben können. Also Songs, die sich beim Hören im Ohr festbeißen. Und die eben RICHTIGE Hits sind. Nur: genau das findet man hier. Personal Shopper, der Song, auf dem Elton John eine Einkaufsliste vorliest, ist schon jetzt einer der besten Popsongs des Jahres. Bittersüße Melodie. Absolut tanzbar. Falsettgesang. Pulsierend. Eklektisch. Zuckersüßer Refrain mit Frauengesang. Und eben Elton John, der eine Einkaufsliste vorliest.

Das alles macht überraschend viel Spaß. Erinnert teils an den weißen Soul Pop von ABC oder Heaven 17 (auch wegen des textlichen, sozialkritischen Konzepts: ein Album über Konsum und Shopping). Und an gayen Pop der Marke Scissor Sisters (das Falsett beherrscht Wilson wirklich sehr gut). Aber eben doch durch die Prog-Rock-Brille gefiltert.

Viele Fans werden es hassen: Einige neue wird er hoffentlich dazu gewinnen. Auch King Ghost ist so ein Song: Würde man nicht wissen, dass hier ein Progressive Rocker der -fast- alten Schule musiziert, man würde das für den neuesten heißen Shit halten.

Abschließend noch eine kritische Stimme: „Das ist Musik für besserverdienende Manager“, schreibt ein User auf laut.de. Das ist natürlich Quatsch. Besserverdienende Manager hören Kollegah, nicht Steven Wilson! Wenn Ihr Lauch seid, seid es mit vollster Überzeugung: Und hört den neuesten Discoqueen-Progressive-Rock!

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