The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: Potemkinsche Bürger – Der wöchentliche Stammtisch bei Christiansen

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Teil 10 (26. November 2000)

Jeden Sonntag Abend schaltet die Nation gespannt den Fernseher ein, um zu erfahren, was denn nun das Thema der Woche gewesen ist und wer zur Beurteilung die meiste Kompetenz mitbringt. In der Kneipe Christiansen findet dieser allwöchentliche Stammtisch statt, und man kann sich sicher sein, daß man auf gute alte Bekannte trifft. Sabine, die Wirtin, ist natürlich da und schenkt den Stoff aus, an dem sich alle berauschen, meistens der Hans-Olaf, immer mal wieder der Walter oder die Andrea, die mögen die anderen aber nicht so gerne, deswegen schreien sie immer so rum, der Guido oder der Heiner. Die Sabine droht dann immer mal wieder, daß sie nichts mehr ausschenkt, wenn alle sich so schlecht benehmen, das glaubt zwar keiner, aber weil sie die Sabine doch irgendwie mögen, benehmen sie sich mal für zehn Minuten. Dummerweise gibt es aber eine Sperrstunde und dann wird der Hahn zugedreht. Tröstlich, daß es nächste Woche bestimmt weiter geht. Und der Hans-Olaf ist auch wieder da, der Partylöwe.

Wie alle anderen Erfolgssendungen (siehe Wer wird Millionär?) ist auch Christiansen ein zur richtigen Zeit lancierter Aufguß eines alten Modells. Erich Böhme war so freundlich, seine Sendung Talk im Turm zu beenden, nicht ohne vorher auch mögliche Nachfolgerinnen wie Sandra Maischberger zu demontieren, so daß danach nichts mehr kam. Sabine Christiansen kam ihrem weiblichkeitsbedingten Rausschmiß aus Altersgründen in den Tagesthemen zuvor und „erarbeitete“ das Konzept einer Kopie von Talk im Turm, das man gerade noch vermißte, so daß ein epigonaler Relaunch auf Bedürfnisreste stoßen konnte. Beim Sendeplatz erinnerte man sich daran, daß ZAK mal am Sonntagabend erstaunlich viel Einschaltquote hatte, wahrscheinlich waren die Zuschauer zu diesem Zeitpunkt schon so enerviert vom sonntäglichen Familiendasein, daß ein gepflegtes Eindreschen auf Politiker kathartische Wirkung versprach. Fertig war die Sendung. Jetzt mußte man nur noch hoffen, daß die journalistische Autorität und spontane Fragetechnik, die Frau Christiansen jahrelang mit dem Ablesen von Telepromptermoderationen bewiesen hatte, die Runde schon irgendwie zusammenhalten würde.

Diese Runde, die sich da jede Woche abmüht, die Lufthoheit über die bildungsbürgerlichen Stammtische zu erobern, ist allerdings ein unsicheres Gebilde. Weil das Fernsehen ja selbst bei den Privatsendern noch in Bruchteilen einem Bildungsauftrag zu genügen hat, muß die pluralistische Gesellschaft, die wir laut Grundgesetz sind, auch an der Zusammensetzung der Gesprächsrunden ablesbar sein. So wie bei Bärbel Schäfer zum Thema „Ich bin fett“ neben der 190 kg-Frustesserin ein Bodybuilder und eine Magersüchtige sitzen müssen, um bloß nicht auf einen Nenner zu kommen, so müssen bei Christiansen eben ein SPD-Minister oder eine Grünen-Ministerin sowie ein CDU-Fraktionsoberer oder ein Ministerpräsident sitzen; die FDP und die CSU dürfen im Wechsel ran, die PDS gelegentlich; desweiteren braucht man einen Experten für das Thema, aber hier fangen die Probleme schon an.

Er (sie ist eigentlich nie zugegen, dafür hat man ja schon Frau Christiansen und eine gelegentliche Ministerin, das muß reichen) muß im Fernsehen auch „rüberkommen“. Diejenigen, die sich tagtäglich zu Experten ausbilden, die Universitätsteilnehmer in jeglicher Position, sind meistens durch ihre Existenz in winzigen, neonbeleuchteten Büroräumen und ihr Eingebundensein in die betriebliche Paranoia sozial so ungeübt, daß sie im Fernsehen eine komische Figur abgeben. So etwas kommt nur als absolute Notlösung in Frage. Gottseidank gibt es aber im vereinsmeiernden Deutschland Interessensverbände für alles und jeden. Und die Vorsitzenden (auch hier gibt es keine Frauen) zeichnen sich für die televisuelle Verwertung dadurch aus, daß sie gewählt wurden, sich also bei einer Menschengruppe beliebt machen mußten, und daß sie ständig starke Reden halten und eine gute Figur abgeben müssen, um dann erneut gewählt zu werden. Fernsehen und Verbandsvorsitzende treffen sich in ihren jeweils eigenen Interessen und gehen eine glückliche Kooperation ein. Der Verbandsvorsitzende will eine noch bessere Figur machen, und wo könnte man das besser als im Fernsehen, und das Fernsehen braucht jemand, der eine gute Figur machen will und durch die Bekleidung eines Amtes die Autorität für ein Thema simulieren kann. Daß nun Hans-Olaf Henkel zum Dauergast bei Christiansen und dadurch zu einem Star mit eigener Autobiographie werden konnte, läßt sich dadurch erklären, daß die deutsche Industrie für Wirtschaft steht. Und jedes Thema hängt zum Schluß an wirtschaftlichen Fragen.

Aber dann wird es nur noch lächerlich. Dann sitzt zum Thema Gesundheitsreform der Schauspieler Rainer Hunold, der sich dadurch qualifiziert hat, daß er gerade die Arztrolle in Praxis Bülowbogen übernommen hat. Allerdings findet es niemand lächerlich. Sondern es leuchtet allen ein. Er erzählt, daß er Ärzte als Freunde hat, und wie die Sendung auch einen ärztlichen Ratgeber hat, der in medizinischen Fragen konsultiert wird und auf die sachgemäße Behandlung der Themen achtet. Das klingt alles nach einer fadenscheinigen Rechtfertigung und ist weit davon entfernt, uns zu überzeugen. Das nächste Argument dann schon eher. Rainer Hundold sagt nämlich, daß er ja auch zum Arzt gehen muß. Plötzlich ist es einleuchtend. Rainer Hunold ist einer von uns. Er hat keine Ahnung vom Thema, besitzt kein Detailwissen, ist aber Betroffener. Einer, der viel selbstbewußter im Fernsehen auftritt, als wir es könnten, weil er dort zuhause ist. Der aber genau dasselbe empfindet wie wir. Er ist der Volksvertreter, unser Abgeordneter im Fernsehparlament, der denen da oben mal sagt, was Sache ist.

Rainer Hunold konnte sein Amt allerdings nicht ausfüllen. Er kam nie wieder zum Stammtisch. Jetzt scheint er aber einen Nachfolger gefunden zu haben, der sich wie Hans-Olaf zu einem Urgestein der Sendung entwickeln könnte. Hellmuth Karasek war geladen, um zum Thema BSE Gewichtiges beizutragen. Das Schöne an Karasek ist, daß hier überhaupt keine störenden Legitimationsfragen aufkommen. Es ist von vornherein klar, daß er mit dem Thema nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Weder hat er ein Monographie über das Beefsteak bei Stefan George geschrieben, noch als Herausgeber die neue Beilage Rind und Welt für den Tagesspiegel eingeführt. Nein, Hellmuth Karasek ist einfach eine Fernsehfratze und sonst gar nichts. Er kann zu jedem Buch und somit zu jedem Thema seinen Senf abgeben, das hat er im Literarischen Quartett bewiesen, aber keinerlei Fachwissen außer literarischem würde seinen Beiträgen bei Christiansen in die Quere kommen. So geschah es dann und es war gut. Mit derselben Verve, mit der er sich sonst an Onanie in Romanen delektiert, bricht er eine Lanze für den kleinen Bauern und ruft uns aus Pausbacken zur Mäßigung auf. Wir fühlen uns gut verkörpert von Hellmuth.

So trifft man bei Christiansen auf ein altes phänomenologisches Paradox. Als Realität empfinden wir nur das, was uns als solche angepriesen wird. Realität ist ein sorgfältig gestaltetes und auf Schlüsselreize reduziertes Produkt, das wir nur in bestimmten Formen zu schlucken bereit sind. Nichts wirkt so schlecht gestellt, wie unser abgefilmtes reales Wohnzimmer. Es bedarf schon einiger Vereinfachungen und Vergröberungen, damit wir es im Film auch als unser eigenes Wohnzimmer wiedererkennen. Genauso katastrophal wirken die „kleinen Leute“ im Fernsehen. Dort stehen immer stotternde Idioten und Prolls, egal ob sie nun Geschäftsführer einer mittelständischen Firma mit 80 Angestellten sind oder bei Opel am Band stehen. Nur Profis kann es im Fernsehen gelingen, einen besorgten Bürger so zu spielen, daß die besorgten Bürger vorm Fernseher sich wiedererkennen.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens