The sun always shines on tv

The sun always shines on TV: Reziproke Hermeneutik – Musikuntermalung im Fernsehen

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Teil 1 (24. September 2000)

Als der Film noch ein Jahrmarktsvergnügen war, da hatte er nur bewegte Bilder zu bieten. Um zum populären Kunstwerk zu werden, benötigte er allerdings den Ton. Das Fernsehen hat davon gelernt und ließ sich erst gar nicht einführen, bevor es nicht synästhetisch wirken konnte. Dabei darf es nicht nur quasseln, sondern muß Gefühle auch musikalisch anleiten. Zu diesem Zweck lagern in einem durchschnittlichen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Hunderttausende von Musikstücken zur kreativen Verfügung. Geschultes und GEZ-gestütztes Personal steht den originalitätshungrigen Redakteuren zur Seite, um jeden noch so individuellen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.

Unerklärlich bleibt deshalb, warum in den Achtzigern jede zweite Fernsehsendung mit den Sphärenklängen von Pink Floyds Shine on you crazy diamond versehen wurde. Wir erinnern uns, diese Siebziger-Jahre-Kopfgeburt, auf dessen endlos gehaltenen Orgel-Akkorden eine getragene Melodie im Keyboard-Register „Trumpet“ serviert wurde. Ob Heißluftballons, Radrennen oder Aktion Sorgenkind, alles hatte sich der weichgespülten Psychedelik zu beugen.

Den synästhetischen Fixpunkt der Neunziger konnte man erst im ersten Jahr des neuen Jahrtausends ausmachen, genauer gesagt während der Berichterstattung über die Olympischen Spiele in Sydney. Nach jahrelangen, fernsehgeschichtlich fruchtlosen Jahren marktwirtschaftlicher Konkurrenz konnten sich ARD, ZDF und RTL endlich auf die ästhetisch gültige Norm für Fernsehmusik einigen. Jeder Hintergrundbericht, jedes Sportlerporträt wurde daraufhin mit diesem Standard versehen. Dem Thema aus Mission Impossible, komponiert von Lalo Schifrin, dem unerreichten Meister der Fernsehserien-Titelmusik. So wird aus jedem Bahnradfahrer, Dressurreiter oder Tischtennisspieler ein Ethan Hunt in aussichtsloser Lage, jede Disziplin zu einem Überlebenskampf gegen eine mafiöse gegnerisches Umgebung.

Was läßt sich an diesen Standards ablesen? Waren die Achtziger tief in ihrem aufgeputzten Äußeren psychedelisch vernebelt? Sind die Neunziger als eine Arena des mikroelektronisch bewaffneten Sozialdarwinismus zu verstehen (dafür würde das Video zu Smells like Teen Spirit sprechen, eine der Hymnen der Neunziger Jahre, in dem anarchistische Cheerleader das gewaltbereite Publikum einer heruntergekommenen Turnhalle anheizen)? Solche soziologischen Implikationen sind jedoch hier nicht das Thema. Einzig interessant ist die Tatsache, wie diese Kartellbildung stattfinden kann. Wie kann es angesichts überbordender, gebührenfinanzierter Archive dazu kommen, daß man immer und immer wieder mit dem selben Lied beschallt wird, und dieses nicht nur auf einem Sender sondern durch die Bank? Spart man auf diese Weise GEMA-Gebühren? Gibt es alle zehn Jahre eine Teaser-CD der Plattenfirmen mit rechtefreien Liedern, die an alle Fernsehsender verschenkt wird und deren erster Track sofort verwendet wird? Oder stecken gar aufwendige Zielgruppenanalysen dahinter, die, weil die Statistik eben mit genormten Verfahren arbeitet, immer zu demselben Ergebnis kommen, egal wer nun der Auftraggeber ist?

Wir wissen es nicht. Man ist geneigt, die zweite Hypothese als richtig anzunehmen. Denn die Berichterstattung über die olympischen Spiele bot auch das Beispiel einer kaschierten Vorankündigung und Werbung für eine Single. A beautiful day von U2 wird erst am 9. Oktober zu kaufen sein, um alle darauf vorzubereiten, konnte man täglich ununterbrochen Schnipsel im ZDF hören, weil es der „offizielle Olympiasong“ des ZDF war. Ähnliches ließ sich vor einiger Zeit bei Lenny Kravitz’ Fly away beobachten, als die Single zeitgleich mit ihrer Veröffentlichung schon in einer Autoreklame verwendet wurde.

Zwei Ausnahmen muß man hervorheben. Zum einen den/die Musikredakteur/in der Sendung Christiansen. Es herrscht zwar eine fast zwanghafte Fixierung auf Beatles-Lieder vor, die nicht unbedingt für eine umfassende musikhistorische Bildung spricht, aber zumindest wird für jedes Thema eine eigene Musik gesucht. So wird aus der Chronik der Ereignisse, die zur deutschen Einheit führten, The long and winding road und aus den Protagonisten der Spendenaffäre die Piggies vom Weißen Album (Charles Manson würde sich in seiner Weltsicht bestätigt fühlen). Das ist nicht sonderlich originell, aber angesichts der allgemeinen Praxis wirkt es beinahe schon erfrischend unkonventionell.

Die andere Ausnahme ist tatsächlich subversiv und ihre Existenz läßt sich nur durch dadurch erklären, daß hier ein Praktikant mal zum Zuge kommen durfte, der, weil er sowieso nicht weiter beschäftigt werden würde, nicht mit Rücksicht auf seinen Job handeln mußte. Zu einem Bericht über die Zukunft des Rentensystems und die momentanen Reformpläne im ZDF ertönten ohrenschmeichelnde Gitarrentöne, die kompatibel mit den Hörgewohnheiten der Lifta-Treppenlift- und Granufink-Generation zu sein schienen, die das Rückgrat des Mainzer Senders bildet. Es handelte sich aber um den Anfang von Led Zeppelins In my time of dying. Es ist nicht schwer, sich die Assoziationskette des für die Auswahl Verantwortlichen vorzustellen, die dazu führte, daß er genau diesen Titel aus dem Archiv orderte. Jenseits aller moralischen Beurteilungen muß man für dieses Stück Meta-Kommunikation danken.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens