Warum Stephen King Schuld daran ist, dass ich bin, wie ich bin

Unser Autor steigt mit Stephen King tief herab zum Kern seines Werkes. Und findet dort einen Spiegel.

Als ich aufhörte, Stephen King zu lesen, war ich auf dem Weg zur Leipziger Buchmesse. Ich mag die Buchmesse nicht, wenn ich dort nichts zu tun habe außer durch die Hallen zu irren, deshalb vermute ich, dass ich auf dem Weg zu einer Lesung war, oder irgendeinem Treffen mit irgendwem. Kurz vor Leipzig schlug ich Der Turm, den letzen Band von Kings Dunklem Turm, zu. Das Zirkelkende mit diesem einem, kleinen Funken Hoffnung auf eine bessere Zukunft war das Ende eines Langzeitprojektes. Ich muss Mitte 20 gewesen sein, ich hatte den ersten Band zum ersten Mal 12 Jahre davor gelesen, ich hatte zu dem Zeitpunkt die Hälfte meines Lebens mit den Romanen verbracht, sie immer wieder gelesen, mich auf jede Fortsetzung gestürzt, sobald sie herausgekommen war. Irgendein Abschnitt meines Lebens war zu Ende gegangen, als ich die letzte Seite des letzten Bandes las, und während ich durch die ländliche Leere vor Leipzig fuhr, im Niemandsland der Zuglandschaft, schloss ich die Augen, atmete tief ein und dachte, dass ich irgendetwas tun musste, irgendetwas, um diesen Abschluss zu feiern, aber mir fiel nicht ein, was. Also tat ich nichts, der Zug kam irgendwann in Leipzig an, ich stieg aus und marschierte in den Rest meines Lebens.

Genüßlich von einer Bettdecke umwickelt

Ich habe keines der Bücher gelesen, die Stephen King danach veröffentlicht hat. Ich weiß, ich verpasse etwas, von Die Arena und  und Doctor Sleep habe ich viel gutes gehört, aber ich schaffe es einfach nicht. Wenn es nach mir ginge, hätte King nach dem Dunklen Turm einfach aufhören können, sich zurücklehnen. Alles, was danach kommt, ist Epilog. Das gesamte King’sche Universum hat in diesen Büchern Platz, und was mich angeht, ist es mit Der Turm auserzählt. Die Geschichten um den Dunklen Turm sind deshalb die letzten Bücher, die ich empfehlen würde, wenn mich jemand nach der Reihenfolge fragt, in der er oder sie King lesen soll: Es ist diejenige seiner Geschichten, die alle anderen seiner Geschichten zu Ende erzählt, sie genüsslich wie mit einer Bettdecke umwickelt.

Eine Ebene darunter

Stephen King tauchte früh in meinem Leben auf, irgendwann kurz nach Karl May, ich muss 11 oder 12 gewesen sein, und der leuchtende, rote Einband von ES im Bücherregal meiner Eltern sprach mich an. Ich hatte keine Lust mehr auf Mays ausufernde Beschreibungen irgendwelcher Landschaften, und die Bücher hinterließen bei mir – obwohl ich nicht sagen konnte, warum – ein unangenehmes Gefühl. Den Herrn der Ringe hatte ich da schon durch, genau wie sämtliche TKKG-Bücher, die die örtliche Bibliothek hergab, für den Steppenwolf war ich noch ein paar Jahre zu jung. Also begann ich mit ES, und, davon abgesehen, dass ich wochenlang Angst hatte, auf Klo zu gehen, war es eine Offenbarung. ES ist ein unheimlich dicht konstruiertes Buch, aber eines, das gleichzeitig sehr einfach konstruiert ist: Letztendlich ist, wie alles bei King, die Technik dahinter vor allem der Schnitt, der zum einen – im klassischen Thriller-Schnitt – immer wegschneidet, wenn es spannend wird, und der, zum anderen, Erzählstränge in Gegenwart und Vergangenheit parallel setzt. Dann ist da natürlich noch die Kleinstadt in Maine, unter der eine mysteriöse Bedrohung lauert, die nicht oder nur kaum besiegt werden kann. ES ist, abgesehen von seinem eher Lovecraft’schen Monster, das King’sche aller King-Bücher. Aber für mich war es vor allem eine Offenbarung, weil ich das erste Mal über den Inhalt hinaus las – weil es das erste Buch war, dessen Struktur, dessen Konstruktion ich durchschaute. Für einen elfjährigen war das eine große Sache: Wie unter dem Inhalt plötzlich eine ganze neue Ebene erschien, eine neue Art zu lesen, die die ganze Zeit still und leise darauf gewartet hatte, dass ich sie entdeckte.

Intertextuelle Referenzen

Also las ich weiter King, ich griff willkürlich Bücher aus dem Regal, auf denen sein Name stand: Friedhof der Kuscheltiere, Feuerkind, Carrie, die Castle-Rock-Trilogie, Shining , irgendwann wagte ich mich auch an The Stand und entdeckte – relativ spät, zum Glück – den Dunklen Turm. Nach und nach fielen mir weitere Konstruktionsprinzipien auf: Handlungstränge, die zusammengeführt wurden, dramaturgische Spiegelungen, Figuren und Figurenkonstellationen, die sich ähnelten, Settings, die immer wiederkehrten, explizit – wie die Kleinstadt Castle Rock – oder als verschleierte Andeutungen. Nach und nach begann ich auch, intertextuelle Referenzen zu sehen, Fäden, die sich durch Kings Werk zogen, Figuren, die zwischen den Büchern umherwanderten, Geschichten, die in anderen Geschichten weitererzählt wurden, aber auch Themen und Motive, die in einem Buch zum Ende geführt wurden, nur, um in einem anderen wieder aufgenommen zu werden. Nach und nach trat ich in ein Universum ein, eben genau das Universum, das vom Dunklen Turm so elegant umschlossen wird. Nach und nach begann ich, Kings Werk nicht als Ansammlung einzelner Bücher zu lesen, sondern als ein großes Buch, das in Zwiebelschichten Geschichten um einen Kern hüllte, und dessen äußere Schicht die Geschichte von Roland und dem Turm war.

Ungefähr zu der Zeit begann ich zu schreiben – ich habe seitdem auch nicht mehr damit aufgehört – und dass ich durchschaut hatte, wie King seine Bücher baute, gab mir mein erstes Handwerkszeug dafür in die Hand. Ich begann mit Lyrik, die sich an Horrormotiven orientierte, ich machte weiter mit Kürzestgeschichten, in denen hinter scheinbar normalen Verhältnissen unbezwingbare Wesen lauerten, ich habe immer noch ein Faible dafür, Welten zu bauen, nur, um dort sämtliche Wände einzureißen und zu schauen, ob dahinter noch etwas hervorkommt, und ich bin auch nie ganz von der King’schen Tendenz losgekommen, dafür immer wieder dieselben Welten zu besuchen, immer wieder dieselben Gedanken zu wälzen.
Was mir damals nicht klar war – und auch erst sehr viel später wurde – ist, was eigentlich im Kern von Kings Zwiebelschichten liegt, was der dunkle Kern aller seiner Geschichten ist. Kings persönlicher dunkler Turm, wenn man so will.

Wattestäbchen in den Nasenlöchern

King sagte einmal in einem Interview:

„Ich habe jede Nacht einen Kasten Bier getrunken. Abends konnte ich kein Bier im Kühlschrank lassen. Ich musste es in den Abfluss schütten, weil ich sonst wieder aufgestanden wäre, um weiterzutrinken. Ich habe funktioniert, was die Arbeit betrifft. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr daran, meinen Roman Cujo geschrieben zu haben. Aber es gibt ihn, und, ehrlich gesagt, ich mag ihn. […] Es fiel mir damals nicht auf, dass ich in der Hauptfigur von Shining, Jack Torrance, über mich selbst schrieb. […] Zehn Jahre später, Mitte der Achtziger, schrieb ich Sie. Da war es, glaube ich, anders. Da wird wiederum ein Schriftsteller von einer geistesgestörten ehemaligen Krankenschwester gefangen gehalten. Sie war mein Delirium. Sie war meine Metapher für meine Sucht. Eine verrückte Krankenschwester.“

Ein Schlüsselwerk in der Hinsicht ist auch der – eher wenig bekannte – Roman Das Monstrum, in dem in einem Wald nahe einer Kleinstadt Stück für Stück ein UFO ausgebuddelt wird, das dort vor Jahrhunderten abgestürzt ist, dessen Strahlung den Bewohnern der Kleinstadt außergewöhnliche Ideen in den Kopf beamt, aber ihre Körper auch verfallen lässt, und sie Stück für Stück zu Außerirdischen macht. Offensichtlicher kann man kaum über Drogen schreiben.

„1987 ging ich erstmals in eine Entzugsklinik. Tabby sagte, entweder das oder raus aus dem Haus. Kurz zuvor hatte sie mich beim Schreiben von Das Monstrum mit Wattestäbchen in den Nasenlöchern entdeckt. Die brauchte ich, weil ich vom Kokain so blutete“,

sagte King in demselben Interview.
Der Punkt ist nicht, dass King über King schreibt – obwohl er das natürlich tut. Der Punkt ist eher, dass in der Mitte von Kings Zwiebelschichten ein Spiegel steht, zu dem er herabsteigt. King schreibt über seine Dämonen – aber seine Dämonen sind auch die Dämonen der anderen, und, wie guter Horror es immer tut, verpackt King seine Dämonen in Metaphern, weil der Blick in diesen speziellen Spiegel zu unaussprechlich ist, um unverschlüsselt zu formulieren, was er zeigt, teilweise so unaussprechlich, dass selbst der Autor nicht klar erkennt, was er da hervorgeholt hat.
Auf den Höhepunkt treibt er das im Dunklen Turm, in den er sich selbst hineinschrieb und sich – schwer verletzt von einem Unfall, den er tatsächlich hatte – von seinen Romanfiguren, die ebenfalls auf dem letzten Loch peifen, dazu anhalten lassen muss, die Bücher endlich zu beenden, die er vernachlässigt hat. King schreibt sich selbst als eine Art Gefäß für das, was er in sich selbst findet – aber auch, und das ist wichtig, als arbeitenden Pragmatiker, der das Zeug, das er da hervorholt zusammenbaut, umbaut, in eine brauchbare Form zwängt. Schreiben, weil man schreiben muss, daran arbeiten, weil man ja kein Idiot ist und glaubt, dass einem alles zufällt: „Only God gets things right the first time. Don’t be a slob“, schrieb King einmal in einem wunderbaren Text namens Everything You Need To Know About Writing.

Nicht einfach dahingezaubert

Ich fand das immer einen beruhigend langweiligen Ansatz: Ich steige in den Keller, hole ein paar Zutaten, und dann koche ich daraus etwas konsumierbares zusammen. Schritt für Schritt. Stück für Stück. Und irgendwann, 50, 60 Jahre später, wenn ich es schaffe, so lange dabei zu bleiben, habe ich ein Universum gebaut.
Stephen King war mein erster, großer Schreiblehrer, schlicht, weil er mich als Leser über lange Zeit begleitet hat und mir gezeigt, dass alle diese Bücher gemacht sind, und nicht dahingezaubert, was vermutlich das wichtigste ist, was man jemandem zeigen kann, der lernen möchte zu schreiben. Inmitten all der klugen Stimmen, die mir über die Jahre erzählten, wie ich schreiben sollte ist Kings vielleicht nicht die klügste – aber die besonnenste, ruhigeste, der pragmatische Handwerker, der sich über die kreischenden, kunstverheißenden Stimmen aus dem Elfenbeinturm der Literaturproduktion immer auch ein wenig lustig macht.

Angst vorm Weitermachen

Das alles bedeutet mit sehr viel. Als meine Mutter die Bücher wegwerfen wollte, aus denen ich gelernt hatte, rettete ich so viele ich konnte aus dem Regal, aus dem ich sie Jahre vorher zum ersten Mal gezogen hatte, stopfte sie in meinen Rucksack, und trug sie durch halb Europa nach Hause. Jeder Satz, den ich in diesen Jahren las, bis ich die letzte Seite von Der Turm zuschlug, während ich durchs sächsische Niemandsland fuhr war ein Satz, von dem ich etwas lernen konnte. Über Handwerk, über Besonnenheit, über Beharrlichkeit, darüber, die Abgründe, die überall lauern produktiv zu nutzen und trotzdem zuzugeben, dass man sie nie ganz versteht.

Vielleicht später einmal

Warum las ich keinen King nach dieser Zugfahrt? Vielleicht, weil die Geschichte auserzählt war, vielleicht, weil die Lektion, die King für mich bereit hielt zu Ende war. Beides stimmt.
Aber die Wahrheit ist auch: Ich hatte Angst. Ich hätte es nicht schlimm gefunden, sogar konsequent, wenn King nach Der Turm einfach aufgehört hätte, alle Bücher bis dahin zum Lebenswerk erklärt und sich den Rest seines Lebens Sonne auf den Bauch hätte scheinen lassen. Aber so funktioniert King wohl nicht, so hat er noch nie funktioniert, diesen Output von einem Buch pro Jahr seit 1974 stellt man nicht so einfach ab. Meine Angst war nicht, dass King aufhört, meine Angst war, dass er weitermacht.
Kurz bevor ich Der Turm las, hatte ich Duddits gelesen, und das Buch hatte mich enttäuscht. Ich hatte, schon bevor ich Der Turm aufschlug Angst davor, dass King gegen seine Version von sich selbst in meinem Kopf anschreibt, sein eigenes Erbe zerstört, sich als Lehrer disqualifiziert. Ich hatte Angst, dass King in Der Turm alles kaputtmachen könnte, wofür ich ihn mochte.
Der Turm war das letzte Buch von King, das ich lesen musste, um King zu verstehen, alle danach sind – in meiner Wahrnehmung – nur Fingerübungen, Spielereien, mit denen der Meister sich für etwas geschmeidig hält, das vielleicht nie kommt.
Ich weiß, dass das unfair ist, irgendwann vielleicht lese ich seine neueren Bücher, und ich vermute, ich werde meine Meinung dann ändern.
Aber so weit bin ich noch nicht. Lieber gehe ich nochmal zu meinen paar Regalmetern King, streiche liebevoll mit dem Finger über meine Lehrbücher, und nehme mir zufällig eines heraus, um es nochmal zu lesen. Ich bin mir sicher, dass ich etwas darin finde, das noch nie gesehen habe.

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