Was am Ende wesentlich ist

Res Sigusch hat mit Wesentliche Bedürfnisse ein unglaubliches Debüt hingelegt. Martin Spieß hat das Buch gelesen und ist schockverliebt.

Benjamin Leiser hat alles: Erfolg, Einfluss – ein gutes Leben, könnte mensch meinen. Er ist Professor für Kunst, und nicht nur in seinen Seminaren hängen die Student*innen an seinen Lippen. Aber er fühlt sich leer, irgendwas fehlt. Seine lose Liebschaft gibt ihm nicht das, was er sucht; allein, er weiß nicht, was das ist.

Eine Geschichte über die Midlife-Crisis eines 50-jährigen weißen Mannes klingt erstmal nicht besonders, aber bei der Lektüre von Wesentliche Bedürfnisse, dem Debütroman von Res Sigusch, stellt mensch schnell fest, was für ein großer Wurf diese Geschichte ist. Es geht um Kunst, Identität, um die Wende, Liebe und Liebeskummer, Tod und Vergänglichkeit, Freund*innenschaft und Mentor*innenschaft. Was hier viel anmutet, ist es im Buch nicht. Sigusch schafft es mühelos, einen ganzen Tornister voller Themen miteinander zu verweben, ohne dass die Geschichte zerfasert, ohne dass es unglaubwürdig oder komplex wird.

Stille, aber nie kitschige Poesie

Und dabei streut dey wie nebenbei Sätze wie glitzernde Perlen ins Buch, groß und gewaltig, leise und liebevoll: „Er sieht aus wie ein kleiner Junge, der mit seiner Klassenlehrerin vor der Schule steht und seit Stunden oder Tagen oder Jahren darauf wartet, dass seine Mutter ihn abholt.“

Irgendwann erfahren die Leser*innen, dass Benjamin 35 Jahre zuvor, im Ostberlin des Jahres 1989, auf der Kunstakademie war, dann aber zu malen aufgehört hat – während sein Freund Stephan gleich nach der Wende als Maler große Erfolge feiert und das auch noch 35 Jahre später tut.

Schwere, aber nicht erdrückende Traurigkeit

Mit stiller, nie aber kitschiger Poesie erschafft Sigusch greifbare Figuren, mit leisem Witz und gefühlvollem, aber nie pathetischem Ernst erzählt dey von Träumen und Ausgeträumt-Haben, von Nichtmehrweiterwissen und Doch-noch-Hoffnung-Haben. Von der Frage, was Kunst ist und sein kann oder muss, und was am Ende (nicht nur in der Kunst) wesentlich ist.

Und an eben diesem Ende – dies nur als kleiner Spoiler – schafft Sigusch es, die Leser*innen in einen schweren, aber nicht erdrückenden Mantel der Traurigkeit zu hüllen. Und nach der Lektüre ist klar: Res Sigusch hat mit Wesentliche Bedürfnisse eines der besten Bücher der letzten Jahre vorgelegt.

Res Sigusch: Wesentliche Bedürfnisse
berlin verlag, 2024
272 Seiten, 24 Euro

Bildquellen

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