The sun always shines on tv

Wir hatten die Wahl – Impressionen von einem Fernsehabend – The Sun Always Shines On TV

Ach war das schön, als man noch auf Wahlergebnisse warten musste und nicht um Punkt 18 Uhr schon genau wusste wer gewann. Mathias Mertens erinnert sich an die längst vergangene Zeit der wackeligen Wahlberichterstattung (Folge # 39 vom 21. Oktober 2001)

Unerhört! Da hatten wir es uns so bequem gemacht vor dem Fernseher, konnten endlich die restlichen Mon Chéri von der Norwegerprinz-Hochzeit rausholen, uns auf einen langen, spannenden Fernsehabend vorbereitet und das Denken eingestellt, als die blöden Berliner genauso wählten, wie es wochenlang vorherorakelt worden war. Wowi wird Bürgermeister, muß dazu aber entweder die PDS, igittigitt, oder eine Ampel, hat noch nie gehalten, nehmen. Diese ganze Computertechnik und Dauerbefragerei der Bevölkerung ist doch wirklich kontraproduktiv für die Sender. Beim ersten Mal, als die Prognose nach dem theatralischen Runterzählen von Thomas Bellut mit Gongschlag um 18:00 Uhr schon alles klar machte, waren wir noch beeindruckt und dachten „Wow, was für ein toller Sender das doch ist, der so präzise vorhersagen kann“. Beim zweiten Mal allerdings mußten wir feststellen, daß uns damit ein ganzer Fernsehabend genommen wurde. Die Sender planen auch schon kackfrech ein ganz normales Abendprogramm und setzen Tatort bzw. Die Superhitparade in der Gewißheit an, daß sie auch zu dem Zeitpunkt anfangen können, der in der Programmzeitschrift abgedruckt ist.

Früher (wo ja alles besser war) dauerte so eine Wahl bis nach dem Schlafengehen. Es konnte passieren, daß man unter einem neuen Ministerpräsidenten ins Bett ging und am nächsten Morgen doch wieder mit dem alten aufwachte. Die ersten Hochrechnungen trudelten nicht wie heute um 18:12 Uhr ein, sondern erst so gegen 19:30 Uhr. Das bange Warten der Politiker war eine Schau und die ganzen Statements, die in den Parteizentralen eingefangen wurden, zeigten sie uns in einer nervösen, ungeschminkten Menschlichkeit. Gleichzeitig konnten wir uns aber an dem Rumeiern erfreuen, weil sie ja noch keinen Status kommentieren konnten, um nicht später bei einer Wendung der Dinge wie Idioten dazustehen. Die Bonner Runde lebte von dieser Ungewißheit, man diskutierte auf Basis der zweiten oder dritten Hochrechnung, zudem unterschieden sich die von ARD und ZDF noch erheblich voneinander, was für weitere Spannung in der Runde sorgte. Außerdem lebte Franz-Josef Strauß noch. Bonner Runde war Franz-Josef Strauß. In seiner ganzen Schulterhochzieher-, Kopfwackel-, Grantel-ei. Daneben klimperte Kohl mit seinen Äuglein, während Hans-Jochen Vogel angewidert herumschnarrte und Hans-Dietrich Genscher dumm aus der Wäsche guckte. Die momentane Vertreterin der Grünen, zuvörderst Petra Kelly, wurde von den Patriarchen noch geflissentlich als Linksradikale angesehen und geschnitten. Heute sitzen da Bütikofers und Piepers rum, die das sagen, was sie schon in der letzten Christiansen-Sendung von sich gegeben haben und was sie gleich bei Berlin Mitte noch mal absondern werden.

In Berlin stand alles schon längst fest, während wählen gegangen wurde. Eigentlich hätte man nur kurz um 18:00 Uhr vermelden können, daß es ist, wie es sein sollte, und dann mit dem normalen Sonntagabend-Fernsehbrei weitermachen können. Alle Beteiligten haben aber ihre politische bzw. journalistische Sozialisation mit den Bonner Runden und den durch Sportschau unterbrochenen Dauerwahlabenden der siebziger und achtziger Jahre erfahren. Jetzt standen sie da, wo sie immer hinwollten und hielten verbissen an ihrem Event-Traumbild der Jugend fest. Die Mikrophonhalter in den Parteizentralenmengen fragten doch Wowi glatt, ob er von diesem Ergebnis überrascht sei. So als hätte die SPD gerade die absolute Mehrheit verloren oder einen ähnlichen Schock erlitten. Und Wowi antwortete ihnen ernsthaft, indem er sagte, daß ihn dieses Wahlergebnis vor Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung stelle, er müsse jetzt in den nächsten Tagen erst einmal Sondierungsgespräche führen und die möglichen Bündnisse ausloten. Hallo? Die Prozentzahlen der einzelnen Parteien und die daraus resultierenden Koalitionsmöglichkeiten waren schon seit mindestens drei Wochen in allen Zeitungen vorhergesagt und durchgekaut worden. Haben Wowi und die Journalisten da was verpaßt? Als sie selbst diese Rechenspiele machten respektive auf diese Spielchen antworteten? Nein. Sie wollen einfach nur die Show haben. Here we are now, entertain us!

Zum Schmunzeln konnte einen an diesem Abend Ulli Wickert bringen, der stoisch wie immer seine Tagesschau-Rolle ausfüllte. Es gab eine Schalte zum Sprecher der Wahlrechnungsgruppe (wie immer die auch bei der ARD heißen mag, die ja nicht die Forschungsgruppe Wahlen des ZDF befehligt), Wickert drehte sich wie immer pflichtbewußt zum Bluescreen-Feld und murmelte mit gewohnt sonorem Tonfall „Welche Koalitionsmöglichkeiten ergeben sich denn jetzt aus den Ergebnissen?“ Häh? Kann Ullrich Wickert nicht rechnen? Das sieht er ja wohl selbst, daß das nur Rot-Rot oder Ampel ergibt. Dafür brauch man doch nicht so einen Computerhansel in einer Schalte. Das Ganze war reine Fernsehaction für den Zuschauer, dem damit das Chaos und die Unübersichtlichkeit eines spannenden Wahlabends demonstriert werden sollte, bei der sich sekündlich Veränderungen ergeben können, die nur vor Ort erkennbar und weitervermittelbar sind. Wickert kann sehr wohl rechnen, aber in diesem Fall war selbst das nicht notwendig. Die Redaktion hatte einfach diesen Ablauf vorgesehen, also fügte er sich. Seinem Tonfall und seiner Mimik war abzulesen, daß er sich in diesem Moment unendlich langweilte. Jahrzehntelange Erfahrung, unermüdliches Arbeiten am journalistischen Profil, um auf diesen Platz gelangen zu können, wo man solche Fragen stellen muß. In seinem Kopf schwirrten sicherlich dringendere Fragen herum: „Habe ich den Bordeaux eigentlich heute nachmittag dekantiert? Scheiße, ich glaube, ich hab’s vergessen. Was soll ich denn nachher zuhause reinkippen? Schon wieder nur Bier? Und das, wo ich grad den Roquefort geliefert bekommen habe. Oh, Schalte ist fertig, also weiter Teleprompter lesen.“

Nervig wurde es allerdings, als die ganzen Superexperten eingekarrt wurden, die uns Unwissenden dann gewisse Feinheiten des Geschehens aufzeigen mußten. Es kamen die unvermeidlichen Politologen zum Zuge, altbekannte Gesichter, die sich seit Jahren abmühen, zu ausgewachsenen Fernsehfratzen zu werden. Prof. Dr. Peter Lösche aus Göttingen zum Beispiel, das sympathische Brillengesicht mit dem grauen Rasenkantenvollbart, der uns die brillante Analyse vortrug, daß Wowi nun zwei Koalitionsmöglichkeiten habe, entweder mit der PDS, was ja ideologisch schlecht wäre, oder eine Ampel, was ja etwas wackelig sei. Hm, so haben wir das noch gar nicht gesehen. Gut, daß wir einen Studierten gefragt haben. Im anderen Sender kam dann Prof. Dr. Jürgen Falter aus Mainz zum Einsatz, der aristokratische Ralf-Dahrendorf-Klon aus den ZDF-Labors, der jetzt aber mit der Konkurrenz rummachte. Wie auch immer, jedenfalls setzte Prof. Falter den Akzent auf die Wahlmöglichkeiten, die Wowi nun hat. Seiner Meinung nach kann er nämlich zwischen zwei Optionen wählen, entweder mit der PDS (schwierig, schwierig) oder mit einer Ampel (wackelig, wackelig). Tja, was soll man dazu sagen, Politik ist eben doch schwieriger zu verstehen als es für den gemeinen Fernsehzuschauer den Anschein hat.

Klasse auch Frank Steffel mit seinem fliederfarbenen Ehefrauenaccessoire an seiner Seite. Kaum hatte Wowi Punkte mit seinem Outing gemacht, da holte er Blondie aus dem Schrank und fuhr mit ihr zum Wandern nach Bayern. Alles für Photos natürlich, damit der Bildhintergrund beim Maßkrugstemmen mit Stoiber auch schön heterosexuell rüberkam. Zu sagen hatte sie natürlich nichts, das haben Frauen bei der CDU ja sowieso nicht, wie das Beispiel Angela Merkel belegt (aber da nehmen sie sich alle nichts). Dumm nur, daß Frankie sein Anhängsel wegen ihrer Stummheit völlig vergessen hat und sie immer noch mitschleift, ohne es zu merken. Bei jedem Auftritt an diesem Wahltag stand sie schräg hinter ihm, lachte, wenn er lachte, guckte ernst, wenn er ernst guckte, stellte sich zum Interview, wenn er dort stand. Es fiel ihm überhaupt nicht auf. Kein Blick fiel in ihre Richtung, kein Wort verirrte sich aus seinem Mund in diese Richtung. Frankie war aber auch echt gefordert an diesem Abend, denn er mußte seinen wochenlang geprobten und auswendig gelernten Auftritt als Wahlverlierer rüberbringen. Er freute sich so, dabeizusein, daß er doch glatt mit Riesenlachen vor seine Parteifreunde trat, eifrig rumwinke und seinen Auftritt genoß, wo er doch eigentlich jetzt die bittere Verantwortung übernehmen mußte. Was ihm dann auch einfiel, woraufhin er sofort ein ernstes Gesicht anknipste und anfing zu reden. Dabeisein ist alles. Sagt sich auch das fliederfarbene Accessoire rechts hinter Frank Steffel. Wie auch wir, gebündelt in diesem Kamerauge links vor Frank Steffel.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens