WM 2018: Deutschland-Dämmerung

Es gibt Parallelen zwischen Löws Nationalmannschaft und Merkels Kanzlerschaft: Aufstieg, Höhepunkt – und nun der mögliche Niedergang? Erleben wir das Ende einer Ära in Form einer sportlichen wie politischen Zeitenwende?

Sommermärchen 2006, die Welt zu Gast bei Freunden. Es knisterte, schwarz-rot-geil lag in der Luft. Nach Jahren fußballerischer Tristesse, mit dem Ausscheiden bei der EM 2000 als Tiefpunkt, übernahm 2004 Jürgen Klinsmann das Ruder der DFB-Elf und ließ bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land eine junge, talentierte Mannschaft auflaufen. Doch der eigentliche Chefstratege und Trainingsleiter war schon damals Joachim Löw. Fußballerisch präsentierte sich Deutschland geradezu progressiv. Sowohl auf dem Platz als auch als WM-Gastgeber zeigte Deutschland plötzlich ein frisches, modernes Gesicht.
Politisch übernahm Angela Merkel 2005 das Steuer. Nach 16 Jahren Helmut Kohl und dem machohaften Sozialdemokraten Schröder hatte die Bundesrepublik zum erstmals einen weiblichen Kanzler – eine Kanzlerin, wie man von nun zu sagen pflegte. Eine Frau als Staatschef – wie progressiv für ein Land, das bis dahin für Biedermeier und Sauerkraut bekannt war.

Die fetten Jahre

Unter Merkel ging es dem Land plötzlich gut: die Wirtschaft – insbesondere der Export – boomte, die Arbeitslosenzahlen sanken und die Finanzkrise wurde nahezu unbeschadet überstanden. Merkel behauptete sich im Kreis männlicher Staatschefs alter Schule wie Nicolas Sarkozy, George W. Bush oder Wladimir Putin und war sodann die mächtigste Frau der Welt.
Zeitgleich revitalisierte Jogi Löw den deutschen Fußball, der bis dahin für seine deutschen Tugenden und den Libero bekannt war. Man behauptete sich gegen fußballerische Schwergewichte wie Brasilien, Spanien oder Argentinien und wurde sodann die beste Nationalmannschaft der Welt.

Die fetten Jahre sind vorbei

Löws Höhepunkt war ohne Frage der Weltmeistertitel 2014. Rückblickend befand sich Angela Merkel damals ebenfalls auf ihrem Zenit, denn 2015 folgte die sogenannte Flüchtlingskrise, in der schätzungsweise an die eine Million Menschen über Balkanroute und Mittelmeer nach Deutschland kamen.
Seitdem muss sich Merkel sowohl von der eigenen Partei als auch von jenen, die rechts davon im Parteienspektrum stehen, Kritik gefallen lassen. Sie wird angegriffen und wirkt angegriffen. Die konservative Konkurrenz zur CDU ist seither erstarkt. Aktuell bringt der nie enden wollende Streit mit Horst Seehofer über die Asyl-Frage die Regierungskoalition und damit Merkels Kanzlerschaft so stark ins wanken wie nie zuvor.
Parallel dazu konnte die DFB-Elf unter Löw nicht mehr an das Niveau des Titelgewinns anknüpfen. Testspiele gegen große und kleine Gegner konnten nicht gewonnen werden. Doch Kritik wurde nicht zugelassen oder bereits im Keim erstickt. Probleme wurden klein- oder schöngeredet und damit gar nicht erst als solche erkannt. Ein Vorgehen, das übrigens auch Merkel immer wieder gern an den Tag legte.

Die Zeichen der Zeit

Mangelnde Digitalisierung, Kinder- und Altersarmut, Niedriglöhne, Verfehlungen einzelner Minister: Vieles blieb auf der Strecke, doch nichts konnte die Teflon-Kanzlerin erschüttern. Auf dem internationalen Parkett hat Merkel der neuen Generation von Staatschefs in Form eines tatkräftigen Macron sowie autokratischer Chauvinisten wie Trump, Erdogan oder einem verwandelten Putin kaum noch etwas entgegenzusetzen.
Von den letzten neun Länderspielen konnte Deutschland nur zwei gewinnen – gegen Saudi-Arabien und Schweden. Andere Teams haben zur DFB-Elf aufgeschlossen oder sie sogar überholt. Fußballerisch hatte Löw Nationen wie England, Frankreich, Spanien oder Brasilien kaum noch etwas entgegenzusetzen.

The answer is blowing in the wind

Deutschlandfahnen werden nicht mehr geschwenkt um Party-Patriotismus und Weltoffenheit zu zelebrieren, sondern um Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zur Schau zu stellen. Deutschland hat sich nach über einem Jahrzehnt – nach vier WM-Turnieren mit Joachim Löw und der vierten Kanzlerschaft von Angela Merkel – verändert. Sind Löw und Merkel Ikonen einer Ära, die sich gerade dem Ende zuneigt?
Die Stimmen, die Löws Rücktritt fordern, werden in den nächsten Tagen bestimmt lauter. Die Stimmen, die Merkels Rücktritt fordern, werden auch nicht mehr lange schweigen. Die Antwort darauf, was danach kommt und ob Deutschland für ein Danach schon bereit ist, kennt – frei nach Bob Dylan – nur der Wind.

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