Worte mit Wucht

Nach seinem Debüt Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht legt Olivier David nach, mit seinem Essayband Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit. Eine schmerzende Lektüre, aber ein fantastisches Buch.

Wer Olivier Davids erstes Buch Keine Aufstiegsgeschichte gelesen hat, weiß, von wem er spricht, wenn er in seinem neuen Buch Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit „seine Leute“ sagt. Er meint die Menschen von unten, die in prekären Umständen leben, deren einzige Möglichkeit der Verkauf ihrer Körper ist, und das nicht im sexuellen Sinne, sondern, weil ihre körperliche Arbeitskraft das Einzige ist, mit dem sie (wenngleich schlechtes) Geld verdienen können. Er meint die, die früher sterben, weil ein Leben in Armut ungesund ist, er meint die, die sich nach innen zurückziehen, die ins Abseits und in die Einsamkeit gedrängt werden, weil sie kein Geld haben für soziale Teilhabe.

Er meint die, die viel rauchen, trinken, Drogen nehmen, weil sie ein Ventil für ihre Wut und ihre Verzweiflung suchen, für ihre Fassungslosigkeit darüber, dass sie trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen, dass sie marginalisiert werden und ihnen obendrein die Schuld an der eigenen Lage gegeben wird. Er meint die, die kriminell werden, weil ihnen kein anderer Ausweg bleibt. Und er meint die, die es rausschaffen aus einem Umfeld, das eigentlich kein Entkommen vorsieht.

Keine Luft mehr, dafür aber Wut

In neun Essays arbeitet Olivier David sich ab an diesen Themen, und er tut das mit so eindringlicher Sprache, dass einem bei der Lektüre immer wieder wortwörtlich die Luft wegbleibt und man, wenn schon nicht die gleiche Wut, dann zumindest eine Ahnung davon verspürt. Und wie schon bei Davids erstem Buch Keine Aufstiegsgeschichte fragt man sich: Wenn es mir schon bei der Lektüre so geht, wie muss es erst gewesen sein, das zu (er)leben?

Ein Ringen um Sprache

Damit das niemand falsch versteht: Olivier David will kein Mitleid, er will Aufmerksamkeit. Er will keine Almosen, er will Veränderung. Er fragt sich und seine Leser*innen, wie es sein kann, dass die Geschichten, Erlebnisse und Erfahrungen einer ganzen Gesellschaftsschicht vergessen oder gar nicht erst erzählt werden. Und er ringt um eine Sprache für sich und „seine Leute“ – und findet dabei die richtigen Worte. Worte mit Wucht, Worte mit Nachhall, Worte, die etwas anstoßen in einem – Worte, von denen man hofft, dass sie viele Leser*innen finden und auch in größeren Zusammenhängen etwas anstoßen. Verdient hätte Olivier David es ohnehin, und die (ganze!) Gesellschaft hätte es bitter nötig. In jedem Fall gilt: Seine Stimme will man nicht mehr wegdenken aus dem Diskurs um Klasse und Kapitalismus. Denn Olivier David – das muss man einmal so deutlich sagen – formuliert nicht nur kluge Gedanken (duh!), sondern ist auch ein exzellenter Autor.

Olivier David: Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit
Haymon Verlag, 2024
176 Seiten, 22,90 Euro

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