Wütende Tränen und Herz ohne Kitsch
Tahsim Durgun hat ein Buch geschrieben: Für und über seine Mama, für und über Deutschland. Mama, bitte lern Deutsch ist eine Geschichte über Ausgrenzung und Rassismus, und über Hoffnung und Liebe. Ein hervorragendes und – gerade jetzt – ungemein wichtiges Buch, findet Martin Spieß.
In einem seiner viralsten Reels ruft Tahsim Durgun bei der Geschäftsstelle der AfD an und fragt, ob er denn als Mitglied vor den nahenden Abschiebewellen sicher wäre. Es ist funny as fuck, vor allem, weil Tahsim Durgun mit seiner exzellenten Mischung aus relaxed und sarkastisch ein sehr witziger Mensch ist, gleichzeitig aber bleibt einem das sprichwörtliche Lachen im Halse stecken, weil die Grundlage des Videos eben die feuchten Träume von AfD und Co. sind, massenhaft Menschen mit Migrationshintergrund zu deportieren … sorry, zu „remigrieren“.
Rassismus und Ausgrenzung
Nun hat Tahsim Durgun – dem allein bei Instagram eine halbe Million Menschen folgen – ein Buch geschrieben: Mama, bitte lern Deutsch heißt es und es hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Es ist zugegebenermaßen unangebracht bis tendenziös, wenn man Menschen mit Migrationshintergrund, nachdem sie schon Ausgrenzung und Rassismus erfahren haben, auch noch die Verantwortung dafür auflastet, für Dialog zu sorgen und für Offenheit und Menschlichkeit zu werben. Allerdings macht Tahsim Durgun mit Mama, bitte lern Deutsch einen fantastischen Job. Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend im Wohnblock zwischen armen mehrheitlich (wie er) kurdischen sowie türkischen, arabischen und russischen Menschen: „Weiße Deutsche gab es hier kaum. Wenn es welche gab, lebten sie abgeschottet von uns.“

Durgun fühlt sich nicht anders, wird aber immer wieder ge-othered: Er muss in den Deutsch-Förderunterricht, obwohl er nicht schlechter Deutsch spricht als seine Mitschüler*innen, wird rassistisch beschimpft, kriegt etwa zu hören, Thilo Sarrazin habe recht und „das kann nicht lange gut gehen mit euch!“ Und er muss jahrelang für seine Mutter übersetzen: auf Ämtern, in Krankenhäusern, bei Ärzt*innen und wenn offizielle Briefe kommen. Irgendwann entlädt sich der Frust, und er wirft seiner Mutter all die Wut an den Kopf, die sich in ihm angestaut hat: „MAMA, ES REICHT – BITTE LERN DEUTSCH!“ Wie und wann, fragt sie ihn mit Tränen in den Augen, hätte sie denn neben ihrer Arbeit Deutsch lernen sollen? Und wer hätte es ihr beibringen sollen? „Dieser Tisch hier?“, sagt sie, und meint den Küchentisch, an dem sie neben ihrer Erwerbsarbeit Essen vorbereitet und Tee gekocht hat. „Es gab Tage, an denen (…) ich mehr Zeit mit diesem Tisch verbracht habe als mit einem Menschen.“
Den Finger in die Wunde
Es gibt viele Stellen wie diese in Mama, bitte lern Deutsch, bei denen einem die Tränen kommen. Es sind aber vor allem Tränen der Wut darüber, dass Deutschland, Almans und Kartoffeln es auch im 21. Jahrhundert noch nicht hinbekommen, weltoffen und menschenfreundlich zu sein. Im Gegenteil.
Tahsim Durgun erzählt liebevoll und einfühlsam, gleichzeitig sachlich und analytisch von seiner Geschichte und der seiner Familie, legt den Finger in die Wunde, nicht aber, um deren Verursacher*innen vorzuführen, sondern auf die Wunde aufmerksam zu machen: „Wir hatten zwar in der Schule oder bei der Ausländerbehörde Rassismus erfahren, aber am Ende gehörten wir zu Deutschland. Das hier war unser Zuhause, und die Almans wollten uns auch – so glaubte ich damals. Es war wie eine Hassliebe unter Geschwistern. Alles war gut. Wir konnten einfach nicht ohne einander, und keine politische oder gesellschaftliche Macht konnte uns das nehmen“, schreibt er nach der Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Deutschen, der Tahsim und seinen Freund*innen den Thilo-Sarrazin-Satz entgegengeschleudert hat. Der nächste Satz lautet: „Zwei Jahre später wurde die AfD gegründet.“
Liebeserklärung und Warnung
Mama, bitte lern Deutsch ist ein unglaublich starkes Buch: es hat Herz, ohne in Kitsch abzurutschen, es hat Verstand, ohne belehrend zu werden und es hat Tahsim Durguns Witz, vom dem man, taucht er mal wieder auf, immer feststellt, wie bitter nötig man ihn gerade hatte. Das Buch ist eine Liebeserklärung an mütterliche Liebe und es ist eine Warnung vor weiterer Extremisierung von Politik und Gesellschaft: Gerade in Zeiten nicht nur einer AfD, die bei der Bundestagswahl vorvergangenes Wochenende über zwanzig Prozent der Stimmen einfuhr, sondern auch in Zeiten eines rechtskonservativen CDU-Kanzlers, der Menschen, die sich für Demokratie und gegen rechts engagieren, „linke Spinner“ nennt, und der Positionen vertritt, die sich nicht oder nur kaum von denen der AfD unterscheiden.
In einem der Blurbs auf der Rückseite des Buchs schreibt Schriftstellerin Caroline Wahl: „Deutschland sollte dieses Buch lesen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Tahsim Durgun: Mama, bitte lern Deutsch
Knaur, 2024
208 Seiten, 18 Euro